IV. Kurzer Abriß einer Geschichte der Philosophie
Es macht einige Schwierigkeit, die Grenzen zu bestimmen, wo der gemeine Verstandesgebrauch aufhört und der spekulative anfängt; oder, wo gemeine Vernunfterkenntnis Philosophie wird.
Indessen gibt es doch hier ein ziemlich sicheres Unterscheidungsmerkmal, nämlich folgendes:
Die Erkenntnis des Allgemeinen in abstracto ist spekulative Erkenntnis; — die Erkenntnis des Allgemeinen in concreto gemeine Erkenntnis. — Philosophische Erkenntnis ist spekulative Erkenntnis der Vernunft, und sie fängt also da an, wo der gemeine Vernunftgebrauch anhebt, Versuche in der Erkenntnis des Allgemeinen in abstracto zu machen. —
Aus dieser Bestimmung des Unterschiedes zwischen gemeinem und spekulativem Vernunftgebrauche läßt sich nun beurteilen, von welchem Volke man den Anfang des Philosophierens datieren müsse. Unter allen Völkern haben also die Griechen erst angefangen zu philosophieren. Denn sie haben zuerst versucht, nicht an dem Leitfaden der Bilder die Vernunfterkenntnisse zu kultivieren, sondern in abstracto; statt daß die andern Völker sich die Begriffe immer nur durch Bilder in concreto verständlich zu machen suchten. So gibt es noch heutiges Tages Völker, wie die Chineser und einige Indianer, die zwar von Dingen, welche bloß aus der Vernunft hergenommen sind, als von Gott, der Unsterblichkeit der Seele u. dgl. m. handeln, aber doch die Natur dieser Gegenstände nicht nach Begriffen und Regeln in abstracto zu erforschen suchen. Sie machen hier keine Trennung zwischen dem Vernunftgebrauche in concreto und dem in abstracto. Bei den Persern und Arabern findet sich zwar einiger spekulativer Vernunftgebrauch; allein die Regeln dazu haben sie vom Aristoteles, also doch von den Griechen entlehnt. In Zoroasters Zendavesta entdeckt man nicht die geringste Spur von Philosophie. Eben dieses gilt auch von der gepriesenen ägyptischen Weisheit, die in Vergleichung mit der griechischen Philosophie ein bloßes Kinderspiel gewesen ist.
Wie in der Philosophie, so sind auch in Ansehung der Mathematik die Griechen die ersten gewesen, welche diesen Teil des Vernunfterkenntnisses nach einer spekulativen, wissenschaftlichen Methode kultivierten, indem sie jeden Lehrsatz aus Elementen demonstriert haben.
Wenn und wo aber unter den Griechen der philosophische Geist zuerst entsprungen sei, das kann man eigentlich nicht bestimmen.
Der erste, welcher den Gebrauch der spekulativen Vernunft einführte, und von dem man auch die ersten Schritte des menschlichen Verstandes zur wissenschaftlichen Kultur herleitete, ist Thales, der Urheber der ionischen Sekte. Er führte den Beinamen Physiker, wiewohl er auch Mathematiker war; so wie überhaupt Mathematik der Philosophie immer vorangegangen ist.
Übrigens kleideten die ersten Philosophen alles in Bilder ein. Denn Poesie, die nichts anders ist, als eine Einkleidung der Gedanken in Bilder, ist älter als die Prose. Man mußte sich daher anfangs selbst bei Dingen, die lediglich Objekte der reinen Vernunft sind, der Bildersprache und poetischen Schreibart bedienen. Pherekydes soll der erste prosaische Schriftsteller gewesen sein.
Auf die Ionier folgten die Eleatiker. — Der Grundsatz der eleatischen Philosophie und ihres Stifters Xenophanes war: in den Sinnen ist Täuschung und Schein, nur im Verstande allein liegt die Quelle der Wahrheit. — Unter den Philosophen dieser Schule zeichnete sich Zeno als ein Mann von großem Verstande und Scharfsinne und als ein subtiler Dialektiker aus.
Die Dialektik bedeutete anfangs die Kunst des reinen Verstandesgebrauchs in Ansehung abstrakter, von aller Sinnlichkeit abgesonderter Begriffe. Daher die vielen Lobeserhebungen dieser Kunst bei den Alten. In der Folge, als diejenigen Philosophen, welche gänzlich das Zeugnis der Sinne verwarfen, bei dieser Behauptung notwendig auf viele Subtilitäten verfallen mußten, artete Dialektik in die Kunst aus, jeden Satz zu behaupten und zu bestreiten. Und so ward sie eine bloße Übung für die Sophisten, die über alles räsonnieren wollten und sich darauf legten, dem Scheine den Anstrich des Wahren zu geben, und schwarz weiß zu machen. Deswegen wurde auch der Name Sophist, unter dem man sich sonst einen Mann dachte, der über alle Sachen vernünftig und einsichtsvoll reden konnte, jetzt so verhaßt und verächtlich, und statt desselben der Name Philosoph eingeführt.
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Um die Zeit der ionischen Schule stand in Groß-Griechenland ein Mann von seltsamen Genie auf, welcher nicht nur auch eine Schule errichtete, sondern zugleich ein Projekt entwarf und zu Stande brachte, das seines Gleichen noch nie gehabt hatte. Dieser Mann war Pythagoras, zu Samos geboren. — Er stiftete nämlich eine Sozietät von Philosophen, die durch das Gesetz der Verschwiegenheit zu einem Bunde unter sich vereiniget waren. Seine Zuhörer teilte er in zwei Klassen ein; in die der Akusmatiker (akusmatikoi), die bloß hören mußten, und die der Akroamatiker (akroamatikoi), die auch fragen durften.
Unter seinen Lehren gab es einige exoterische, die er dem ganzen Volke vortrug; die übrigen waren geheim und esoterisch, nur für die Mitglieder seines Bundes bestimmt, von denen er einige in seine vertrauteste Freundschaft aufnahm und von den übrigen ganz absonderte. — Zum Vehikel seiner geheimen Lehren machte er Physik und Theologie, also die Lehre des Sichtbaren und des Unsichtbaren. Auch hatte er verschiedene Symbole, die vermutlich nichts anders als gewisse Zeichen gewesen sind, welche den Pythagoräern dazu gedient haben, sich unter einander zu verständigen.
Der Zweck seines Bundes scheint kein anderer gewesen zu sein, als: die Religion von dem Wahn des Volks zu reinigen, die Tyrannei zu mäßigen und mehrere Gesetzmäßigkeit in die Staaten einzuführen. Dieser Bund aber, den die Tyrannen zu fürchten anfingen, wurde kurz vor Pythagoras' Tode zerstört, und diese philosophische Gesellschaft aufgelöst, teils durch Hinrichtung, teils durch die Flucht und Verbannung des größten Teils der Verbündeten. Die wenigen, welche noch übrig blieben, waren Novizen. Und da diese nicht viel von des Pythagoras eigentümlichen Lehren wußten: so kann man davon auch nichts Gewisses und Bestimmtes sagen. In der Folge hat man dem Pythagoras, der übrigens auch ein sehr mathematischer Kopf war, viele Lehren zugeschrieben, die aber gewiß nur erdichtet sind.
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Die wichtigste Epoche der griechischen Philosophie hebt endlich mit dem Sokrates an. Denn er war es, welcher dem philosophischen Geiste und allen spekulativen Köpfen eine ganz neue praktische Richtung gab. Auch ist er fast unter allen Menschen der einzige gewesen, dessen Verhalten der Idee eines Weisen am nächsten kommt.
Unter seinen Schülern ist Plato, der sich mehr mit den praktischen Lehren des Sokrates beschäftigte, und unter den Schülern des Plato Aristoteles, welcher die spekulative Philosophie wieder höher brachte, der berühmteste.
Auf Plato und Aristoteles folgten die Epikureer und die Stoiker, welche beide die abgesagtesten Feinde von einander waren. Jene setzten das höchste Gut in ein fröhliches Herz, das sie die Wollust nannten; diese fanden es einzig in der Hoheit und Stärke der Seele, bei welcher man alle Annehmlichkeiten des Lebens entbehren könne.
Die Stoiker waren übrigens in der spekulativen Philosophie dialektisch; in der Moralphilosophie dogmatisch, und zeigten in ihren praktischen Prinzipien, wodurch sie den Samen zu den erhabensten Gesinnungen, die je existierten, ausgestreut haben, ungemein viele Würde. — Der Stifter der stoischen Schule ist Zeno aus Kittium. Die berühmtesten Männer aus dieser Schule unter den griechischen Weltweisen sind Kleanth und Chrysipp.
Die epikurische Schule hat nie in den Ruf kommen können, worin die stoische war. Was man aber auch immer von den Epikureern sagen mag: — so viel ist gewiß: sie bewiesen die größte Mäßigung im Genüsse, und waren die besten Naturphilosophen unter allen Denkern Griechenlands. — Noch merken wir hier an, daß die vornehmsten griechischen Schulen besondre Namen führten. So hieß die Schule des Plato Akademie, die des Aristoteles Lyceum, die Schule der Stoiker Porticus (stoê), ein bedeckter Gang, wovon der Name Stoiker sich herschreibt, — die Schule des Epikurs Horti, weil Epikur in Gärten lehrte.
Auf Platos Akademie folgten noch drei andre Akademien, die von seinen Schülern gestiftet wurden. Die erste stiftete Speusippus, die zweite Arkesilaus, und die dritte Karneades.
Diese Akademien neigten sich zum Skeptizismus hin. Speusippus und Arkesilaus — beide stimmten ihre Denkart zur Skepsis, und Karneades trieb es darin noch höher. Um deswillen werden die Skeptiker, diese subtilen, dialektischen Philosophen, auch Akademiker genannt. Die Akademiker folgten also dem ersten großen Zweifler Pyrrho und dessen Nachfolgern. Dazu hatte ihnen ihr Lehrer Plato selbst Anlaß gegeben, indem er viele seiner Lehren dialogisch vortrug, so daß Gründe pro und contra angeführt wurden, ohne daß er selbst darüber entschied, ob er gleich sonst sehr dogmatisch war.
Fängt man die Epoche des Skeptizismus mit dem Pyrrho an, so bekommt man eine ganze Schule von Skeptikern, die sich in ihrer Denkart und Methode des Philosophierens von den Dogmatikern wesentlich unterschieden, indem sie es zur ersten Maxime alles philosophierenden Vernunftgebrauchs machten: auch selbst bei dem größten Scheine der Wahrheit sein Urteil zurückzuhalten; und das Prinzip aufstellten: die Philosophie bestehe im Gleichgewichte des Urteilens, und lehre uns, den falschen Schein aufzudecken. — Von diesen Skeptikern ist uns aber weiter nichts übrig geblieben, als die beiden Werke des Sextus Empiricus, worin er alle Zweifel zusammengebracht hat.
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Als in der Folge die Philosophie von den Griechen zu den Römern überging, hat sie sich nicht erweitert; denn die Römer blieben immer nur Schüler.
Cicero war in der spekulativen Philosophie ein Schüler des Plato, in der Moral ein Stoiker. Zur stoischen Sekte gehörten Epiktet, Antonin der Philosoph und Seneca als die berühmtesten. Naturlehrer gab es unter den Römern nicht, außer Plinius dem Jüngern1), der eine Naturbeschreibung hinterlassen hat.
Endlich verschwand die Kultur auch bei den Römern und es entstand Barbarei, bis die Araber im 6ten und 7ten Jahrhundert anfingen, sich auf die Wissenschaften zu legen, und den Aristoteles wieder in Flor zu bringen. Nun kamen also die Wissenschaften im Okzident wieder empor und insbesondre das Ansehen des Aristoteles, dem man aber auf eine sklavische Weise folgte. Im 11ten und 12ten Jahrhundert traten die Scholastiker auf; sie erläuterten den Aristoteles und trieben seine Subtilitäten ins Unendliche. Man beschäftigte sich mit nichts als lauter Abstraktionen. — Diese scholastische Methode des After-Philosophierens wurde zur Zeit der Reformation verdrängt; und nun gab es Eklektiker in der Philosophie, d. i. solche Selbstdenker, die sich zu keiner Schule bekannten, sondern die Wahrheit suchten und annahmen, wo sie sie fanden.
Ihre Verbesserung in den neueren Zeiten verdankt aber die Philosophie teils dem größern Studium der Natur, teils der Verbindung der Mathematik mit der Naturwissenschaft. Die Ordnung, welche durch das Studium dieser Wissenschaften im Denken entstand, breitete sich auch über die besondern Zweige und Teile der eigentlichen Weltweisheit aus. Der erste und größte Naturforscher der neuern Zeit war Baco von Verulamio. Er betrat bei seinen Untersuchungen den Weg der Erfahrung, und machte auf die Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit der Beobachtungen und Versuche zu Entdeckung der Wahrheit aufmerksam. Es ist übrigens schwer zu sagen, von wo die Verbesserung der spekulativen Philosophie eigentlich herkommt. Ein nicht geringes Verdienst um dieselbe erwarb sich Descartes, indem er viel dazu beitrug, dem Denken Deutlichkeit zu geben, durch sein aufgestelltes Kriterium der Wahrheit, das er in die Klarheit und Evidenz der Erkenntnis setzte.
Unter die größten und verdienstvollsten Reformatoren der Philosophie zu unsern Zeiten ist aber Leibniz und Locke zu rechnen. Der letztere suchte den menschlichen Verstand zu zergliedern und zu zeigen, welche Seelenkräfte und welche Operationen derselben zu dieser oder jener Erkenntnis gehörten. Aber er hat das Werk seiner Untersuchung nicht vollendet; auch ist sein Verfahren dogmatisch, wiewohl er den Nutzen stiftete, daß man anfing, die Natur der Seele besser und gründlicher zu studieren.
Was die besondre, Leibnizen und Wolffen eigene, dogmatische Methode des Philosophierens betrifft: so war dieselbe sehr fehlerhaft. Auch liegt darin so viel Täuschendes, daß es wohl nötig ist, das ganze Verfahren zu suspendieren und statt dessen ein anderes — die Methode des kritischen Philosophierens, in Gang zu bringen, die darin besteht, das Verfahren der Vernunft selbst zu untersuchen, das gesamte menschliche Erkenntnisvermögen zu zergliedern und zu prüfen: wie weit die Grenzen desselben wohl gehen mögen.
In unserm Zeitalter ist Naturphilosophie im blühendsten Zustande, und unter den Naturforschern gibt es große Namen, z. B. Newton. — Neuere Philosophen lassen sich jetzt, als ausgezeichnete und bleibende Namen, eigentlich nicht nennen, weil hier alles gleichsam im Flusse fortgeht. Was der eine baut, reißt der andre nieder.
In der Moralphilosophie sind wir nicht weiter gekommen als die Alten. Was aber Metaphysik betrifft: so scheint es, als wären wir bei Untersuchung metaphysischer Wahrheiten stutzig geworden. Es zeigt sich jetzt eine Art von Indifferentism gegen diese Wissenschaft, da man es sich zur Ehre zu machen scheint, von metaphysischen Nachforschungen, als von bloßen Grübeleien, verächtlich zu reden. Und doch ist Metaphysik die eigentliche, wahre Philosophie! —
Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Kritik, und man muß sehen, was aus den kritischen Versuchen unsrer Zeit, in Absicht auf Philosophie und Metaphysik insbesondre, werden wird.
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1) Akad.-Ausg. erwägt: »Plinius dem älteren«.