Unwissenheit
Der logischen Vollkommenheit des Erkenntnisses in Ansehung seines Umfanges steht die Unwissenheit entgegen. Eine negative Unvollkommenheit oder Unvollkommenheit des Mangels, die wegen der Schranken des Verstandes von unserm Erkenntnisse unzertrennlich bleibt.
Wir können die Unwissenheit aus einem objektiven und aus einem subjektiven Gesichtspunkte betrachten.
1) Objektiv genommen ist die Unwissenheit entweder eine materiale oder eine formale. Die erstere besteht in einem Mangel an historischen, die andere in einem Mangel an rationalen Erkenntnissen. — Man muß in keinem Fache ganz ignorant sein, aber wohl kann man das historische Wissen einschränken, um sich desto mehr auf das rationale zu legen, oder umgekehrt.
2) In subjektiver Bedeutung ist die Unwissenheit entweder eine gelehrte, szientifische oder eine gemeine. — Der die Schranken der Erkenntnis, also das Feld der Unwissenheit, von wo es anhebt, deutlich einsieht — der Philosoph z, B., der es einsieht und beweiset, wie wenig man aus Mangel an den dazu erforderlichen Datis in Ansehung der Struktur des Goldes wissen könne, ist kunstmäßig oder auf eine gelehrte Art unwissend. Der hingegen unwissend ist, ohne die Gründe von den Grenzen der Unwissenheit einzusehen und sich darum zu bekümmern, ist es auf eine gemeine, nicht wissenschaftliche Weise. Ein solcher weiß nicht einmal, daß er nichts wisse. Denn man kann sich seine Unwissenheit niemals anders vorstellen als durch die Wissenschaft, so wie ein Blinder sich die Finsternis nicht vorstellen kann, als bis er sehend geworden.
Die Kenntnis seiner Unwissenheit setzt also Wissenschaft voraus, und macht zugleich bescheiden, dagegen das eingebildete Wissen aufbläht. So war Sokrates' Nichtwissen eine rühmliche Unwissenheit; eigentlich ein Wissen des Nichtwissens nach seinem eigenen Geständnisse. — Diejenigen also, die sehr viele Kenntnisse besitzen und bei alle dem doch über die Menge dessen, was sie nicht wissen, erstaunen, kann der Vorwurf der Unwissenheit eben nicht treffen.
Untadelhaft (inculpabilis) ist überhaupt die Unwissenheit in Dingen, deren Erkenntnis über unsern Horizont geht; und erlaubt (wiewohl auch nur im relativen Sinne) kann sie sein in Ansehung des spekulativen Gebrauchs unserer Erkenntnisvermögen, so fern die Gegenstände hier, obgleich nicht über, aber doch außer unserm Horizonte liegen. Schändlich aber ist sie in Dingen, die zu wissen uns sehr nötig und auch leicht ist.
Es ist ein Unterschied, etwas nicht wissen und etwas ignorieren, d.i. keine Notiz wovon nehmen. Es ist gut, viel zu ignorieren, was uns nicht gut ist zu wissen. Von beidem ist noch unterschieden das Abstrahieren. Man abstrahiert aber von einer Erkenntnis, wenn man die Anwendung derselben ignoriert, wodurch man sie in abstracto bekommt und im allgemeinen als Prinzip sodann besser betrachten kann. Ein solches Abstrahieren von dem, was bei Erkenntnis einer Sache zu unserer Absicht nicht gehört, ist nützlich und lobenswert.
Historisch unwissend sind gemeiniglich Vernunftlehrer.
Das historische Wissen ohne bestimmte Grenzen ist Polyhistorie; diese blähet auf. Polymathie geht auf das Vernunfterkenntnis. Beides, das ohne bestimmte Grenzen ausgedehnte historische so wohl als rationale Wissen kann Pansophie heißen. — Zum historischen Wissen gehört die Wissenschaft von den Werkzeugen der Gelehrsamkeit — die Philologie, die eine kritische Kenntnis der Bücher und Sprachen (Literatur und Linguistik) in sich faßt.
Die bloße Polyhistorie ist eine zyklopische Gelehrsamkeit, der ein Auge fehlt — das Auge der Philosophie; und ein Zyklop von Mathematiker, Historiker, Naturbeschreiber, Philolog und Sprachkundiger ist ein Gelehrter, der groß in allen diesen Stücken ist, aber alle Philosophie darüber für entbehrlich hält.
Einen Teil der Philologie machen die Humaniora aus, worunter man die Kenntnis der Alten versteht, welche die Vereinigung der Wissenschaft mit Geschmack befördert, die Rauhigkeit abschleift und die Kommunikabilität und Urbanität, worin Humanität besteht, befördert.
Die Humaniora betreffen also eine Unterweisung in dem, was zur Kultur des Geschmacks dient, den Mustern der Alten gemäß. Dahin gehört z. B. Beredsamkeit, Poesie, Belesenheit in den klassischen Autoren u. dgl. m. Alle diese humanistischen Kenntnisse kann man zum praktischen, auf die Bildung des Geschmacks zunächst abzweckenden, Teile der Philologie rechnen. Trennen wir aber den bloßen Philologen noch vom Humanisten: so würden sich beide darin von einander unterscheiden, daß jener die Werkzeuge der Gelehrsamkeit bei den Alten sucht, dieser hingegen die Werkzeuge der Bildung des Geschmacks.
Der Belletrist oder bei esprit ist ein Humanist nach gleichzeitigen Mustern in lebenden Sprachen. Er ist also kein Gelehrter — denn nur tote Sprachen sind jetzt gelehrte Sprachen — sondern ein bloßer Dilettante der Geschmackskenntnisse nach der Mode, ohne der Alten zu bedürfen. Man könnte ihn den Affen des Humanisten nennen. — Der Polyhistor muß als Philolog Linguist und Literator und als Humanist muß er Klassiker und ihr Ausleger sein. Als Philolog ist er kultiviert, als Humanist zivilisiert.
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