Hypothesen
Wir bemerkten oben von der Wahrscheinlichkeit, daß sie eine bloße Annäherung zur Gewißheit sei. — Dieses ist nun insbesondre auch der Fall mit den Hypothesen, durch die wir nie zu einer apodiktischen Gewißheit, sondern immer nur zu einem bald größern bald geringern Grade der Wahrscheinlichkeit in unserm Erkenntnisse gelangen können
Eine Hypothese ist ein Fürwahrhalten des Urteils von der Wahrheit eines Grundes um der Zulänglichkeit der Folgen willen; oder kürzer: das Fürwahrhalten einer Voraussetzung als Grundes.
Alles Fürwahrhalten in Hypothesen gründet sich demnach darauf, daß die Voraussetzung, als Grund, hinreichend ist, andre Erkenntnisse, als Folgen, daraus zu erklären. Denn wir schließen hier von der Wahrheit der Folge auf die Wahrheit des Grundes. — Da aber diese Schlußart, wie oben bereits bemerkt worden, nur dann ein hinreichendes Kriterium der Wahrheit gibt und zu einer apodiktischen Gewißheit führen kann, wenn alle mögliche Folgen eines angenommenen Grundes wahr sind: so erhellet hieraus, daß, da wir nie alle mögliche Folgen bestimmen können, Hypothesen immer Hypothesen bleiben, das heißt: Voraussetzungen, zu deren völliger Gewißheit wir nie gelangen können. — Demohngeachtet kann die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese doch wachsen und zu einem Analogon der Gewißheit sich erheben, wenn nämlich alle Folgen, die uns bis jetzt vorgekommen sind, aus dem vorausgesetzten Grunde sich erklären lassen. Denn in einem solchen Falle ist kein Grund da, warum wir nicht annehmen sollten, daß sich daraus alle mögliche Folgen werden erklären lassen. Wir ergeben uns also in diesem Falle der Hypothese, als wäre sie völlig gewiß, obgleich sie es nur durch Induktion ist.
Und etwas muß doch auch in jeder Hypothese apodiktisch gewiß sein; nämlich
1) die Möglichkeit der Voraussetzung selbst. — Wenn wir z. B. zu Erklärung der Erdbeben und Vulkane ein unterirdisches Feuer annehmen: so muß ein solches Feuer doch möglich sein, wenn auch eben nicht als ein flammender, doch als ein hitziger Körper. — Aber zum Behuf gewisser andrer Erscheinungen die Erde zu einem Tiere zu machen, in welchem die Zirkulation der innern Säfte die Wärme bewirke, heißt eine bloße Erdichtung und keine Hypothese aufstellen. Denn Wirklichkeiten lassen sich wohl erdichten, nicht aber Möglichkeiten; diese müssen gewiß sein.
2) Die Konsequenz. — Aus dem angenommenen Grunde müssen die Folgen richtig herfließen; sonst wird aus der Hypothese eine bloße Chimäre.
3) Die Einheit. — Es ist ein wesentliches Erfordernis einer Hypothese, daß sie nur Eine sei und keiner Hülfshypothesen zu ihrer Unterstützung bedürfe. — Müssen wir bei einer Hypothese schon mehrere andre zu Hülfe nehmen: so verliert sie dadurch sehr viel von ihrer Wahrscheinlichkeit. Denn je mehr Folgen aus einer Hypothese sich ableiten lassen, um so wahrscheinlicher ist sie; je weniger, desto unwahrscheinlicher. So reichte z. B. die Hypothese des Tycho de Brahe zu Erklärung vieler Erscheinungen nicht zu; er nahm daher zur Ergänzung mehrere neue Hypothesen an. — Hier ist nun schon zu erraten, daß die angenommene Hypothese der echte Grund nicht sein könne. Dagegen ist das Kopernikanische System eine Hypothese, aus der sich alles, was daraus erklärt werden soll, — so weit es uns bis jetzt vorgekommen ist — erklären läßt. Wir brauchen hier keine Hülfshypothesen (hypotheses subsidiarias).
Es gibt Wissenschaften, die keine Hypothesen erlauben; wie z. B. die Mathematik und Metaphysik. Aber in der Naturlehre sind sie nützlich und unentbehrlich.