Zurückhalten und Aufschieben eines Urteils -
Vorläufige Urteile
Man pflegt sich oft der Ausdrücke zu bedienen: Seinem Urteile beipflichten; sein Urteil zurückhalten, aufschieben oder aufgeben. — Diese und ähnliche Redensarten scheinen anzudeuten, daß in unserm Urteilen etwas Willkürliches sei, indem wir etwas für wahr halten, weil wir es für wahr halten wollen. Es fragt sich demnach hier: Ob das Wollen einen Einfluß auf unsre Urteile habe?
Unmittelbar hat der Wille keinen Einfluß auf das Fürwahrhalten; dies wäre auch sehr ungereimt. Wenn es heißt: Wir glauben gern, was wir wünschen, so bedeutet das nur unsre gutartigen Wünsche, z. B. die des Vaters von seinen Kindern. Hätte der Wille einen unmittelbaren Einfluß auf unsre Überzeugung von dem, was wir wünschen: so würden wir uns beständig Chimären von einem glücklichen Zustande machen und sie sodann auch immer für wahr halten. Der Wille kann aber nicht wider überzeugende Beweise von Wahrheiten streiten, die seinen Wünschen und Neigungen zuwider sind.
So fern aber der Wille den Verstand entweder zur Nachforschung einer Wahrheit antreibt oder davon abhält, muß man ihm einen Einfluß auf den Gebrauch des Verstandes und mithin auch mittelbar auf die Überzeugung selbst zugestehen, da diese so sehr von dem Gebrauche des Verstandes abhängt.
Was aber insbesondre die Aufschiebung oder Zurückhaltung unsers Urteils betrifft: so besteht dieselbe in dem Vorsatze, ein bloß vorläufiges Urteil nicht zu einem bestimmenden werden zu lassen. Ein vorläufiges Urteil ist ein solches, wodurch ich mir vorstelle, daß zwar mehr Gründe für die Wahrheit einer Sache, als wider dieselbe da sind, daß aber diese Gründe noch nicht zureichen zu einem bestimmenden oder definitiven Urteile, dadurch ich geradezu für die Wahrheit entscheide. Das vorläufige Urteilen ist also ein mit Bewußtsein bloß problematisches Urteilen.
Die Zurückhaltung des Urteils kann in zwiefacher Absicht geschehen; entweder, um die Gründe des bestimmenden Urteils aufzusuchen; oder um niemals zu urteilen. Im erstem Falle heißt die Aufschiebung des Urteils eine kritische (suspensio iudicii indagatoria), im letztern eine skeptische (suspensio iudicii sceptica). Denn der Skeptiker tut auf alles Urteilen Verzicht, der wahre Philosoph dagegen suspendiert bloß sein Urteil, wofern er noch nicht genügsame Gründe hat, etwas für wahr zu halten. —
Sein Urteil nach Maximen zu suspendieren, dazu wird eine geübte Urteilskraft erfordert, die sich nur bei zunehmendem Alter findet. Überhaupt ist die Zurückhaltung unsers Beifalls eine sehr schwere Sache, teils weil unser Verstand so begierig ist, durch Urteilen sich zu erweitern und mit Kenntnissen zu bereichern, teils weil unser Hang immer auf gewisse Sachen mehr gerichtet ist, als auf andre. — Wer aber seinen Beifall oft hat zurücknehmen müssen und dadurch klug und vorsichtig geworden ist, wird ihn nicht so schnell geben, aus Furcht, sein Urteil in der Folge wieder zurücknehmen zu müssen. Dieser Widerruf ist immer eine Kränkung und eine Ursache, auf alle andre Kenntnisse ein Mißtrauen zu setzen.
Noch bemerken wir hier: daß es etwas anders ist, sein Urteil in dubio, als, es in suspenso zu lassen. Bei diesem habe ich immer ein Interesse für die Sache; bei jenem aber ist es nicht immer meinem Zwecke und Interesse gemäß zu entscheiden, ob die Sache wahr sei oder nicht.
Die vorläufigen Urteile sind sehr nötig, ja unentbehrlich für den Gebrauch des Verstandes bei allem Meditieren und Untersuchen. Denn sie dienen dazu, den Verstand bei seinen Nachforschungen zu leiten und ihm hierzu verschiedene Mittel an die Hand zu geben.
Wenn wir über einen Gegenstand meditieren, müssen wir immer schon vorläufig urteilen und das Erkenntnis gleichsam schon wittern, das uns durch die Meditation zu Teil werden wird. Und wenn man auf Erfindungen oder Entdeckungen ausgeht, muß man sich immer einen vorläufigen Plan machen; sonst gehen die Gedanken bloß aufs Ohngefähr. — Man kann sich daher unter vorläufigen Urteilen Maximen denken zur Untersuchung einer Sache. Auch Antizipationen könnte man sie nennen, weil man sein Urteil von einer Sache schon antizipiert, noch ehe man das bestimmende hat. — Dergleichen Urteile haben also ihren guten Nutzen und es ließen sich sogar Regeln darüber geben, wie wir vorläufig über ein Objekt urteilen sollen.
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