Er vermag nicht zu folgen


Es wäre verfehlt zu glauben, dass ein seriöser Kritiker wie Saiten vom Stück des Herrn Raoul Auernheimer schlechthin begeistert ist, einfach überschwänglich wird und die Augen zudrückt vor den mancherlei Schwächen und Gebrechen. Er macht es sich gar nicht leicht. Er nimmt die Sache sehr, sehr ernst bitte, besonders was die Auernheimerschen Probleme betrifft, da geht er tief hinein mit der Sonde. Er hat Bedenken und Einwendungen:

Bedenken und Einwendungen. Die junge Frau ist um fünf Uhr morgens von der Redoute weg mit dem fremden Herrn, mit dem sie bis dahin gezecht hat, im Wagen allein, zu ihrem Hause gefahren. Der Herr hatte Gelegenheit, ihr auf dieser Fahrt ein Perlenkollier, ohne dass sie's gemerkt hätte, vom Halse zu nehmen. Am folgenden Tag schrieb ihr die Schwester dieses Herrn, sie möge sich doch das Schmuckstück um so und so viel Uhr ... abholen; was nebenbei bemerkt, eine sonderbare Manier ist, fremde Wertgegenstände zurückzustellen. Die junge Frau geht hin; findet zwar die Schwester jenes Redoutengalans nicht vor, dafür aber in der leeren Wohnung den Galan, der ihr das Perlenkollier übergibt, und der höchst zufrieden ist, sie zu diesem Rendezvous gelockt zu haben. Der Ehemann, der seine Frau auf der Redoute champagnisieren sah, der dann von der Heimfahrt im Wagen Kenntnis erlangt, endlich auch von dem Stelldichein in der leeren Wohnung, hält sich, mit einigem Recht, wie mir scheint, für betrogen, und will sich deswegen scheiden lassen. Dann aber glaubt er die Sache mit dem Kollier und hält sich nicht mehr für betrogen. Hier kann ich nicht recht folgen. Für mein Empfinden ist die Frau, die um fünf Uhr früh (oder auch um eine andere Stunde) zur Heimfahrt vom Balle mit einem fremden Herrn die Enge eines Coupés teilt, so redlich teilt, dass sie nicht einmal merkt, wie man ihr ein Kollier vom Halse löst, für mein Empfinden ist die Frau damit allein schon erledigt. Gleichviel, ob sie vom Alkohol oder von jener fremden Herrlichkeit oder von beidem benebelt war. Dass sie dann noch in eine fremde Wohnung ging, dass sie dann noch so tut, als sei dort alles mögliche geschehen, dann wieder schwört, es sei nicht das geringste passiert, macht diese Frau (für mich) dazu reif, aus jeder ehelichen Gemeinschaft in weitem Bogen hinausbefördert zu werden. Ihr Mann aber glaubt ihr, versöhnt sich mit ihr und liebt sie. Kann er vielleicht deshalb über die Dinge, die nun doch geschehen sind, hinweg, weil er sich mit jenem fremden Herrn duelliert hat? Ich vermag hier nicht recht zu folgen.

Bedenken. Das Paar nach der Mode hat sich ...

Ein strenger Kritiker, fürwahr. Wie der ins Zeug geht. Nicht oft wird man einen Theaterbesucher so indigniert gesehen haben. In diesem Gemütszustand kann es leicht passieren, dass man auf die Bühne hinaufruft: »Ja, Herr, merken Sie denn nicht, dass Sie die Würzen sind?« (Geste des Hörneraufsetzens.) Saiten vermag da eben nicht zu folgen. Bis zum zweiten Akt geht er noch mit. Dann setzt er sich hin und schreibt sich's vom Herzen. Ganz tüchtig und ausführlich. Karpath wäre knapper. Er (als Referent) würde sagen, die eheliche Treue sei keine quantité negligeable, das Perlenkollier sei nur ein Vorwand für andere Absichten (Für unsaubere Absichten. Der Referent.) Die Dichtung (Dichtung! ist gut. Der Referent.) sei nicht gut. Und würde mit einem kurzen, aber kräftigen Fidonc! schließen. Karpath ist wesentlich Aphoristiker. Saiten erhebt mehr flammende Anklagen. Recht haben sie beide, wo sie Recht haben.

 

 

März, 1913.


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