Fern sei es von mir, den »Professor Bernhardi« zu lesen
denn läse ich ihn, ich fühlte mich hingerissen, ihn zu zitieren, und zitierte ich ihn, man läse ihn richtig. Denn ihr alle wisset doch schon, dass die Dinge, die ihr anderorts mit Wohlgefallen betrachtet, hier plötzlich ein anderes Gesicht annehmen, indem sie das werden, was sie sind. Denn mir ist ein Engel erschienen, der mir sagte: Gehe hin und zitiere sie. So ging ich hin und zitierte sie. Und kann Existenzen dem Hungertode preisgeben, bloß dadurch, dass ich sie hier noch einmal und wörtlich das sagen lasse, wodurch sie Reichtümer erwerben. Und wahrlich ich sage euch, ich besitze eine Skizze von Salus, welche in der Sonntags-›Zeit‹ erschienen ist. Und wenn ich sie abdrucke, wird sich Europas Sorgenantlitz glätten und es wird wieder sein wie vor dem Kriege. Ich aber tue es nicht, weil ich ein anständiger Mensch bin. Diese geheime Kraft, die mich befähigt, die deutsch-österreichischen Autoren vor Gott und Menschen mißliebig zu machen, übe ich mit Bedacht. Schnitzlers Zeit ist noch nicht vollendet. In zehn Jahren wird man wissen. Und aber in zehn Jahren wird man nicht mehr wissen. Fern sei es von mir, seine besten Sätze abzudrucken. Denn er ist allen sympathisch und alle würden von mir sagen, ich sei ungerecht gegen ihn. Was ich aber schon heute verraten kann, ist, was ich nur vom Hörensagen weiß. Es soll ein ernstes Stück sein, ein soziales Stück, und Priester und Arzt reichen sich die Hand über dem Abgrund. Das habe ich gehört und mache mir Gedanken. Ich weiß, dass es nicht das Lustspiel ist, das sie von ihm erwartet haben. Denn jegliche Saison, wenn das Fest der Laubhütten kam, gingen die zehn Ältesten hinaus zu ihm und sahen nach, ob er ihnen schon das Lustspiel geschenkt hatte. Aber immer kehrten sie um und sagten: Noch nicht, aber fast. Er sei berufen, seinem Volk dereinst im Volkstheater das Lustspiel zu geben. Aber er gab es nicht, und die zehn Ältesten kehrten um und sagten: Noch nicht, aber fast. Und sie sahen, dass er sich mit unreinen Dingen abgab, mit der sogenannten Erotik. Das verdroß sie im Herzen und sie fragten: Siehe, warum gibt dieser hier, wenn er schon nicht das Lustspiel gibt, nicht wenigstens das ernste Schauspiel, das seriöse mit den sozialen Problemen, wo man hineinführen kann die Tochter? Und er gab nicht das Lustspiel, aber er gab das ernste Schauspiel, das seriöse mit den sozialen Problemen und sie wollten hineinführen die Tochter, aber die Zensur erlaubte es nicht. Dieses war Professor Bernhardi. Und sie sagten: Seine erotischen Probleme haben bei aller Feinheit der Psychologie nicht immer Wohlgefallen ausgelöst, jetzt aber, wo er ernst ist und gediegen, wird er verboten? Sitzt Glossy nicht im Beirat und gibt er nicht preis die Kunst dem Rotstift des Schergen, der päpstlicher ist als der Papst? Soll es nicht erlaubt sein einen Spiegel vorzuhalten, so lasset verschwinden Nathan und den Pfarrer von Kirchfeld und die Perlen von unseren Bühnen. Wieso erblickt man im Hauptproblem den Stein des Anstoßes, wo es doch einen Kardinalpunkt der kirchlichen Lehre bildet? Die Kirche scheut doch selbst nicht die »öffentliche Darbietung des Konflikts zwischen Dies- und Jenseits«, warum erlaubt man ihn nicht als Premiere im Volkstheater? Ist es gerecht, wenn man auf der Bühne nur erlaubt die Probleme des Ehebruchs, »als ob unser Liebes- und Eheleben aus lauter solchen Späßen bestünde«? Der so fragte, war ein hervorragender Rechtslehrer und er nannte sich so und verschwieg seinen Namen. Denn die Stimme des Herrn gebot ihm, zu schreiben gegen die geheime Fehme, wenn auch anonym, und den Satz zu schreiben von den »Gönnern, die zwar ihre schönen Namen gerne in den Dienst einer humanen Sache stellen, die aber in dem Augenblicke sich verkriechen, wo sie Männer sein sollen«. Dieser hier aber verkroch sich in dem Augenblick, wo er seinen schönen Namen in den Dienst der humanen Sache stellen sollte, und tat es anonym, was den Zweifel ausschloß, dass es ein Universitätsprofessor sei. Ich aber sage euch, es gibt deren viele. Und keiner von ihnen ist, der nicht bereit wäre, für die Überzeugung einzutreten, dass Gott die Welt unmöglich in sechs Tagen erschaffen haben kann. Und keiner von ihnen ist, der nicht bei der Vorstellung des »Professor Bernhardi« erschüttert wäre, aber unbewegt bei der Vorstellung, dass vor dem Premierenpublikum des Deutschen Volkstheaters vom Sakrament gesprochen wird. Und keiner von ihnen ist, der nicht bereit wäre, anonym die Behörde anzugreifen, weil sie die Frage, ob der Priester im Sterbezimmer zu erscheinen habe, kurzerhand durch die Verfügung erledigt hat, dass er nicht vor dem Auswurf der Menschheit zu erscheinen habe. Ich sage euch, es gibt einen Typus, der verderblicher ist als Hunger, Pest und Meer. "Er nennt sich einen hervorragenden Rechtslehrer oder eine besondere Seite, er kann ein Historiker sein oder ein Nervenspezialist oder er muß auch nichts von Frauenleiden verstehen. Er ist in jedem Falle ein Freidenker und hat einen warmen Vollbart. Ist man sensibel, so kann man gegen den Typus nichts unternehmen, weil man als Kindheitseindruck irgendeine schäbige Maxime aus solchem Mund durchs Leben trägt und sich noch in reiferem Alter von einem Bart, der sich einst über ein Gitterbett beugte, gekitzelt fühlt. Ist man brutal, so sieht man in solchen Attrappen den Feind, bereit, sie überall anzuspringen, wo sie sich vor Kunst und Leben stellen. Diese Akkoucheure jeglicher Banalität stehen noch immer mit ihren Umgangsformen dem Geist im Weg. Viel mag von dieser Vollbärtigkeit im Professor Bernhardi, im Helden, im Werk und im Dichter stecken, nur dass hier als ornamentaler Hintergrund noch ein weites Land dazugehören mag. Der Gedanke aber, der in die starrste Konsequenz kirchlicher Formen verläuft, kommt von noch weiterem her. Das Sterbesakrament beginnt noch nicht einmal dort, wo das Sterbefeuilleton aufhört. Anonyme, aber hervorragende Rechtslehrer sehen in diesen Dingen eine Gelegenheit, sich in die Mannesbrust zu werfen, mit dem Voll- und Ganzbart zu protestieren, und sie loben einen Causeur erst dort, wo er sich endlich auch thematisch in ihren Horizont begeben hat und zum Leitartikel emporwächst. Denn Gott ist ihnen etwas, was sich überlebt hat, die Weltanschauung des Vereins katholisch Geschiedener ist ihnen etwas, was einen Dichter begehrenswert macht, und das Geschlechtsleben, um das sie so sicher Bescheid wissen wie um die Religion, ist etwas, was man nach der Arbeit betreibt, aber kein eines ernsten Menschen (der im Leben steht) würdiges Studium. Schnitzlers erotische Probleme haben nicht ihr Wohlgefallen ausgelöst. Aber was denn auf der Welt sollte Wohlgefallen auslösen, wenn nicht Schnitzlers erotische Probleme? Beunruhigt haben sie noch keinen hervorragenden Rechtslehrer, selbst wenn sein Eheleben aus lauter solchen Späßen wie Ehebruch bestünde. Es ist alles beim Alten geblieben, kein Mißverständnis zwischen den Geschlechtern wurde beseitigt und um Schnitzlers willen werden noch in hundert Jahren die Freidenker ruhig schlafen können und die Freidenkerinnen unruhig schlafen müssen, und die Welt wird nicht mit Schnitzlerischen Gedankenkeimen zur Welt kommen, und wenn es geschähe, würde es ihrer Verdauung auch nichts schaden. Gegen das Liebesleben der Leute hat er nichts unternommen. Darum war es höchste Zeit, dass er auch etwas für ihre Gesinnung getan hat. Um sie erotisch zu unterhalten, muß man mindestens ein Mikosch sein. Ein Gedanke würde ihnen die Nacht verderben. Psychologie verpatzt ihnen nur den Abend. Schnitzler hat sich rehabilitiert, als wäre er früher Strindberg gewesen. Der Professor Bernhardi ist »eines der besten seit lange geschriebenen Dramen«. Zu wissen, wer so urteilt, und zu wissen, was darin vorkommt, möge dem Wissenden genügen. Ich stehe ganz auf dem Standpunkt des humanen Arztes und bin dagegen, dass man dort, wo die Kunst stirbt, es ihr auch noch sage. Und als Priester würde ich ihr nicht einmal Trost spenden und keine Absolution gewähren. Wie die Schnitzlersche Patientin hinter der Szene ist sie verloren, »aber glaubt sich genesen.« Überlassen wir alles Weitere den Freidenkern und bleiben wir im Vorraum.
Februar 1913.