Ein Mißverständnis
Kein Zweifel, Österreich ist ein mittelmäßiger Maler, der zeitweise auch Schlachtenbilder im Künstlerhaus ausstellt und den Prinzen Eugen in Kabarets singt. Im Ausland war man deshalb von der Kriegsbereitschaft überzeugt. Zum Beispiel in Frankreich. Frankreich hat allerdings die Phantasie eines Zahlkellners, der auch ein fescher Kerl ist und den Fünfer wie einen Neuner schreibt. Die beiderseitigen Charaktere kommen am besten heraus, wenn sie einander mißverstehen. Als ein unvergeßliches Symbol stand es in einer französischen Zeitung. Da war eine Photographie, und man sah ein Gebäude, davor eine allem Anschein nach wildbewegte Menge. Darunter aber etwa der Text: »Die aufgeregte Wiener Bevölkerung vor dem Ministerium die Kriegserklärung erwartend.« Die Wiener Gesichter waren ja nicht zu verkennen; die Gegend auch nicht. Die Aufnahme ist sicher in Wien erfolgt. Wann hat sich der Vorgang abgespielt? Man sieht genauer hin und entdeckt eine Tafel, auf der 12 steht. Es ist also vielleicht nicht das Ministerium 12, sondern vielleicht eher das Postamt 12? Der Vorstand dürfte aber nicht in der Lage sein, den Krieg zu erklären, nicht einmal Auskunft wegen der zurückgehaltenen Briefe des Konsuls Prochaska zu erteilen. Was wollen also die Leute? Warum ist die Menge wildbewegt? Hm. Sollte die Photographie vor dem Postamt 12 am 12. 12. 1912. vielleicht gar um 12 Uhr aufgenommen worden sein — dann weiß ich Bescheid. Dann braucht man mir gar nichts mehr zu sagen, dann ahne ich den Zusammenhang. Nur die Franzosen, die sich in der Weltgeschichte manchmal zu ihrem Vorteil irren, und überhaupt ein bißchen lebhaft sind, machen sich zum Wiener Pathos den Text, den sie verstehen. Sie glauben, daß man sich in Wien für Kleinigkeiten aufrege, wenn der 12. 12. 1912 da ist, und halten ernste Philatelisten für Patrioten. Wenn ruhigere Tage kommen, wird man hier wieder den Prinzen Eugen singen, und dann sollen sie im Ausland das Gedränge vor dem Apollotheater für die Mobilisierung halten. Sollen Sie!
Januar, 1913.