Wofür man sich erschießt


Aus Baden wird berichtet: Großes Aufsehen erregte der Selbstmordversuch der Soubrette des hiesigen Stadttheaters, Fräuleins Annie M ..., einer Wienerin. — — Am Samstag erschien in einem Badner Blatte über Fräulein M. eine abfällige Kritik, die sie sich sehr zu Herzen nahm. Gestern früh schrieb sie Abschiedsbriefe an ihre Eltern in Wien, an ihren Bräutigam — — Man fand in den Parkanlagen unweit der Arena Fräulein M. auf einem Rasen mit einer Schußwunde in der linken Schläfengegend mit blutüberströmtem Gesichte, doch bei völligem Bewußtsein. — — Zum Direktor sagte sie dann, dass sie die Tat wegen der abfälligen Kritik begangen habe. — — Im Rathschen Spital, wohin sie gebracht wurde, wurde konstatiert, dass die Kugel nicht in das Gehirn eingedrungen ist.

Was sagt man zu diesem sonderbarsten Mißverhältnis der Tatsachen: die Ansicht eines Individuums, in Druckerschwärze übertragen, bewirkt, dass das Gesicht eines jungen Mädchens blutüberströmt ist. In Baden soll der Machthaber über Leben und Tod ein Uhrmacher sein. Aber das ist im Grunde gleichgiltig. Wäre er von Beruf sogar Journalist, müßte man dennoch fragen, wer ihn denn berufen habe. Schauspielerkritik, die nicht von einer Persönlichkeit geübt, sondern von Schreibern betrieben wird, ist wohl die frechste Überhebung, die sich die Fremdherrschaft der Letternschmarotzer erlaubt. Denn in diesem Gebiete einer Unterworfenheit, die mit der Preßfurcht schon auf die Welt kommt, hängen Existenzen von einer gerümpften Krummnase ab. Ein Dichter wie Speidel, der nur nebenbei Schauspielerkritik übte, hat sich und dem Theater nicht genützt: aber eine höhere Gerechtigkeit dürfte hier doch ein Bedürfnis der Persönlichkeit über die Interessen der Schauspieler gestellt haben und die Kritik selbst war der Gegenwert für gekränkte Herzen. Der grobe Unfug, dass Leute, die kaum eine Meinung haben, auch ein Amt bekommen, und dass alle, deren Meinungen einander widersprechen, sie mit dem Anspruch auf die gleiche Autorität aussprechen können, aber ohne die geringste Kontrolle, ob die Meinung nicht von den unsaubersten Beweggründen: hemmungsloser Witzigkeit, Geilheit oder Geldgier sich ableitet — dieser menschen-mörderische Unfug könnte nur durch das Verbot der Anonymität gelindert werden. Die Schreiber müßten wie Persönlichkeiten hinausgestellt werden und zusehen, ob sie, dem Schutz der für sie geheimnisvoll sprechenden Zeitung entrückt, mit Frechheit allein bestehen und der Frage, wer sie denn zu einer Meinung über Frl. M. berechtigt habe, standhalten könnten. Da es keine Möglichkeit gibt, das Publikum zur Lektüre mehrerer Zeitungen zu zwingen, um ihm den Glauben an die Autorität der einen mit Erfolg zu nehmen, und da der Schauspieler unter nichts so sehr leidet wie unter der Unverrückbarkeit eines Urteils, so gibt es kein anderes Mittel als dessen Entwertung durch den Autornamen. Nur wenn die Schopenhauersche Forderung eines gesetzlichen Verbotes jeglicher Anonymität wenigstens für die Theaterkritik erfüllt wäre, würde das Publikum endlich aufhören, sich dafür zu interessieren, was die Zeitung über einen Schauspieler sagt, und die Neugierde, was der Kohn sagt, so bald vollständiger Indolenz weichen, dass Kohn, Chef und Verleger die Überflüssigkeit ihrer Intervention erkennen und die Zeitungen wenigstens in dieser Rubrik ihrem Zweck wiedergegeben würden: Tatsachen wiederzugeben. Dann würde man nur erfahren, dass das Fräulein M. nicht gerufen wurde, und wenn es eine Lüge wäre, gäbe es eine Möglichkeit, sie zu berichtigen, und wenn es wahr wäre, wäre der Seelenschmerz nur die Folge eines verfehlten Berufs. Des Schauspielers und nicht des Journalisten. Und die trostlose Möglichkeit, dass ein Tintenfleck von fremder Hand durch eigenes Blut weggewaschen wird, und der unerhörte Kontrast zwischen dem blutüberströmten Angesicht eines Mädchens und der Ansicht eines von keiner Instanz der Welt berufenen Individuums, das nicht einmal vor Scham rot wird, wären uns Gott sei Dank erspart.

 

 

Juli 1913.


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