Die Seuche bin ich


Der Oberste Gerichtshof hat wieder einmal den Zeugniszwang gegen Redakteure gutgeheißen, und diese protestieren wieder. Man sollte ihnen nachgeben und auf die Nennung des Verfassers eines inkriminierten Artikels verzichten, wenn sie sich dafür zum Verzicht auf die Anonymität zwingen lassen. Man sollte aber auch auf die Nennung des sogenannten »Gewährsmanns« verzichten, wenn der verantwortliche Redakteur dafür auf die Vernachlässigung der pflichtgemäßen Obsorge verzichtet und sich verpflichtet, jeden Artikel zu lesen oder für jeden die Verantwortung zu übernehmen. Aus dem vielerlei Geschwätz ist nur ein einziges hervorzuheben, jenes, das der Humorist der Neuen Freien Presse vortrug und in dem durch anderthalb Jahrzehnte verhaltener Schmerz sich wie folgt Luft machte:

.... Ich kann Ihnen heute nur sagen, dass wir unsre Tätigkeit in dieser Angelegenheit fortsetzen werden, aber es ist umso notwendiger, dass die Gesamtheit der Journalisten in Wien und in den Kronländern dieser Angelegenheit nähertritt, notwendig aus zwei Gründen: Einmal deshalb, weil unsre Standesbestrebungen vielleicht nicht immer und nicht überall jenes Interesse und Verständnis gefunden haben, das sie verdienen, notwendig aber auch deshalb, weil wir uns keiner Täuschung darüber hingeben dürfen, dass ein pressefeindlicher Zug wie eine Seuche durch die Welt geht. (Rufe: Sehr richtig!), und zwar nicht nur durch die österreichische Welt! Das ist eine Sache, die nicht an die Grenzpfähle gebunden ist, und die Mitglieder der internationalen Pressevereinigung sind gewiß dazu berufen, sich als eine internationale Sanitätskommission zu konstatieren und den Kampf gegen diese Volksseuche aufzunehmen. (Lebhafte Bravorufe.) Aber sage ich recht, wenn ich von einer Volksseuche spreche? Es wäre richtiger, von einer Regierungskrankheit, von einer speziellen Berufskrankheit, welche Minister zu befallen scheint, zu sprechen. Es hat den Anschein, als ob die Staatslenker zu der Weisheit letztem Schluß gekommen wären, indem sie ein berühmt gewordenes Bismarckwort umkehren: Um den Völkern die Kosten verfehlter Maßnahmen, übel angebrachter Systeme, unzulänglicher Vorkehrungen mundgerecht zu machen, schlage man die Fenster der Presse ein oder versuche, sie zumindest mit vergilbtem Gesetzespapier zu verkleben ...

Die österreichische Regierung, die bei der Presse fensterlt, hat, wie ich einmal nachgewiesen habe, jedem Bismarckwort immer nur ein Kompliment für die Presse entgegengesetzt. Sie brauchte, um gegen die Presse zu sein, kein Bismarckwort umzukehren, sondern es nur immer so zu zitieren, wie es lautet, weil ein Bismarckwort nicht, wie das Geschwätz glauben macht, für, sondern immer gegen die Presse gedacht ist. Zum Beispiel: »Jedes Land ist auf die Dauer doch für die Fenster, die seine Presse einschlägt, irgend einmal verantwortlich«. Die Regierung unseres Landes bedient sich leider nur zu selten dieser Erkenntnis. Nur so ist es möglich, dass in Pestzeiten die Bazillenträger sich als Sanitätskommissäre aufspielen können und die Pest sich über die um sich greifende Gesundheit der Leute beklagt.

 

 

Juli 1913.


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