Der beste Habsburger-Kenner
Ein Mann in Graz, der einen roten Kopf hat, auch wenn von mir nicht die Rede ist und der je nach Bedarf Visitenkarten und Rezensionen abgibt, um sich vor Gott und Menschen angenehm zu machen — man entsinnt sich seiner aus der Geschichte von meinen Grazer Abenteuern — schreibt über ein Buch »Kaiser Max, der letzte Ritter«, das, wie schon aus dem Titel hervorgeht, von dem Erzjournalisten Saiten ist. Hier hat einmal ein Thema seinen Autor und ein Autor seinen Rezensenten gefunden. Der Mann, der »O du mein Wien« gedichtet hat, rühmt dem Dichter des Buches vom »österreichischen Antlitz« nach, dass sein letztes Buch vom letzten Ritter »ein Doppelgesicht aufweist«. Eins für die Jugend, eins für den reifen Leser nämlich. Und der Autor sei nicht nur einer der feinsten deutschen Stilisten, sondern auch ein gütiger Mensch. »Saiten ist überdies einer der besten Habsburger-Kenner«. Maximilian, der letzte Ritter, ist also nicht etwa Herr Harden, sondern jenem wird vielmehr nachgerühmt, »dass er wie alle großzügigen, phantasievollen Naturen nicht mit dem Geld wirtschaften konnte und immer in Schulden stak«. Er habe »auch niemals den großen, märchenhaften Familienschatz der Habsburger angegriffen, der in Wienerisch-Neustadt gestapelt lag«. Also zwischen Wien und Graz. Aber was geht der Familienschatz der Habsburger die Presse an? Was hat er mit der Literatur zu schaffen? Was hat er in einer Rezension zu suchen? Entfernen wir uns nicht zu weit von den Interessen des Marktes. Der Familienschatz der Trebitsch oder der Hatvany, der auch märchenhaft genannt wird, sollte größere Zugkraft haben und dennoch: wiewohl er gewiß den Wiener, Berliner und Münchner literarischen Kreisen näherliegt, wurde er nie von diesen angegriffen, sondern es werden im Gegenteil die Werke und Taten von Söhnen, die ihre Werke ihren Taten zu verdanken haben, unaufhörlich in objektivster Weise besprochen. Nicht Geld — das wäre uninteressant —, sondern der Respekt vor dem Geld — das ist furchtbar — macht Literatur. Umso mehr ist man erstaunt, dass der Satz, den man irgendwo findet: »Eine Familie, in der jedermann sich nicht bloß als lachender Erbe, sondern als dankbarer Sprosse eines verdienstvollen Vaters betrachtet und zugleich wieder als verantwortlicher Vater künftiger Erbsöhne, kann nicht so leicht untergehen«, dass dieser Satz sich nicht auf das Haus Trebitsch bezieht — was man wegen der schlechten Grammatik des Satzes fast schon geglaubt hätte —, sondern geradezu auf die Familie Maximilians. Diese Intimität wird mit der Zeit peinlich. Der Mann in Graz meint zwar, »der innere Anteil« des Autors steigere sich gegen Schluß »derart, dass wir diese Biographie mit der Ergiffenheit zu Ende lesen, wie wir die letzte Szene des Götz lesen«, das ist zwar auch nicht gut deutsch und eine Frechheit, aber zum Glück kommt im Götz schon früher eine Szene vor, die immerhin aus rein stofflichen Gründen eher heranzuziehen wäre, was einem aber auch nicht einfallen darf, wiewohl es einem auf der Zunge liegt. Der Mann in Graz nennt Herrn Saiten »einen Seelenkünder, dem die innige Liebe zu diesem Staat, zu diesem Land, zu seinem Fürstengeschlecht das Innerste sichtbar werden ließ«. Ich wieder bekenne, dass die Befassung des Herrn Saiten mit den Angelegenheiten des Erzhauses zu den widerlichsten Nummern des österreichischen Geistestheaters gehört und dass die Pietät, die in der Kapuzinergruft ein Ullstein-Buch niederlegt, den Wunsch entstehen läßt, die Martinswand hinaufzuklettern. Herr Saiten ist ohne Zweifel der weitaus geschickteste unter allen jenen Journalisten, die jetzt damit betraut sind, von den Familienschätzen des Geistes und der Kultur einen Oberflächeneindruck für die Bedürfnisse des Publikums abzuschöpfen. Aber nur die Verlassenheit und Unorientiertheit eines adeligen Lebens ist imstande, solche Entdecker nicht an der Schwelle abzulehnen. Weil es unter den Habsburgern naturgemäß keine Saiten-Kenner gibt, bleibt Saiten einer der besten Habsburger-Kenner. Seine Vielseitigkeit ermöglicht ihm aber, auch den Wünschen eines andersgesinnten Publikums mit dem Ghetto näherzukommen und im Kino zu zeigen, wie wenig ratsam es ist, wenn sich die Töchter ehrlicher alter Wucherer in Krakau tief verschuldeten Kavalieren anvertrauen, die es nur auf das Geld abgesehen haben. »Während ihr Vater seelisch und körperlich gebrochen zum hinfälligen Greis wird, spielt sich in Berlin die Alltagstragödie von der betörten, betrogenen und verlassenen Gattin ab.« Der Adelige ist ein Schurke und der Wucherer stirbt an gebrochenem Herzen. »Die ganze Art und Weise dieses meisterhaft inszenierten Mimodramas zeigt, dass der Autor in richtiger Erfassung dessen, was im Kino am stärksten packt und fasziniert, durchaus keine Bereicherung der Literatur beabsichtigt hat, sondern nur die Herstellung eines geschmackvollen, spannenden Filmdramas...« Eine Bereicherung der Literatur hat er also diesmal nicht beabsichtigt, er hat verzichtet; und Geschmack hat er. Wenngleich nun aber der letzte Jude über den letzten Ritter triumphiert und Saiten sowohl ein Habsburger-Kenner wie ein Kenner der Verhältnisse im Ghetto ist — eines ist er sicher nicht: ein Kenner der ›Fackel‹. Und darum habe ich es ungern gesehen, dass er bei einer Besprechung des »geistigen Lebens in Österreich« zum Regierungsjubiläum des Kaisers — also als Kenner Habsburgs und des Ghettos — in ›Über Land und Meer‹ mich nicht übersehen, sondern im Gegenteil geschrieben hat:
Es darf nicht geleugnet und nicht verschwiegen werden, dass der durch seine Heftigkeit isolierte Satiriker Karl Kraus mit seiner großen, negierenden Beredsamkeit einen starken Einfluß auf die Jugend übt.
Es darf geleugnet und es soll verschwiegen werden. Es muß dort, wo Herr Schnitzler der »schöpferisch reichste Künstler« genannt wird, sogar vertuscht werden. Niemand hat es zu erfahren. Die Geschicklichkeit hat es nicht zu verraten. Wenn ich durch meine Heftigkeit nebbich isoliert bin, so will ich isoliert bleiben. Sonst werde ich heftiger. Ich teile weder mit dem letzten Ritter die Wehrlosigkeit noch mit dem Wucherer von Krakau das gute Herz. Ich habe im »geistigen Leben Österreichs« nicht das geringste zu suchen. Denn ich finde dort nichts, und wenn sich Leute, die dort zu einem Kaiserfest geladen sind, im Hause breit machen, so unterhalte ich mich im Gesindezimmer über die Gewohnheiten der Parvenus.
Dezember, 1913.