4. Mechanik


4. Er hat das Verdienst, zum erstenmal eine Mechanik nicht bloß des Himmels, sondern auch der Erde und zwar nicht nur der anorganischen, sondern auch der organischen Natur bis an die Grenze der Bewußtseinstätigkeit versucht zu haben. Nicht nur die Astronomie, sondern auch die Physiologie soll eine durchaus mechanische Wissenschaft sein, in der eine »Seele« keinen Platz hat. Descartes war einer der ersten, die sich für Harveys Entdeckung (I, S. 348) erklärten und sie auf das Gebiet der Nervenphysiologie anwandten; er gibt bereits eine Beschreibung von Reflexbewegungen. Mit den Männern der Renaissance teilt er den Grundsatz, dass alle Naturerscheinungen auf die einfachsten und einleuchtendsten Prinzipien zurückzuführen seien, mit den Begründern der Naturwissenschaft die quantitative Auffassung der Natur. Wohl bezeichnet er der Kirche gegenüber seine mechanische Evolutionstheorie als eine nur »mögliche« Art der Entwicklung, wohl steht am Ende der Reihe das Prinzip der Unwandelbarkeit Gottes, aber dieser Gott ist bei ihm nur ein Deus ex machina, ein Notbehelf. Tatsächlich sind die Gesetze der Natur mit denen der Mechanik identisch, wie er ausdrücklich erklärt (Discours V, 14). Zu einer Zeit, wo - es war am 4. September 1624 - die Verbreitung der Korpuskulartheorie vom Pariser Parlament bei Todesstrafe (!) verboten wurde, mußte Descartes, wenn er die Möglichkeit des Wirkens behalten wollte, die Wahrheit verschleiern. Aber trotz der theologischen Floskeln, die er seinen Sätzen anzuhängen für gut befindet, ist er im Grunde durchaus modern, in Auffassung und der Sprache. 1640 in einen literarischen Streit mit den Jesuiten verwickelt, bittet er seinen Freund Mersenne brieflich, ihm ein scholastisches Kompendium zu nennen, da er seit zwanzig Jahren keinen Scholastiker gelesen habe! Den Mut des Reformators freilich besaß er nicht.

Wie hoch man indes auch Descartes' Behauptung des Selbstbewußtseins als einziger Quelle aller Wirklichkeit werten mag, so liegt seine eigentliche Bedeutung doch nicht in dieser Erneuerung des Augustnischen Gedankens von der Selbstgewißheit des denkenden Ich, sondern in der Vertiefung, die er mit Hilfe seiner Kritik der Erkenntnis den Prinzipien und Methoden der mathematischen Naturwissenschaft gegeben hat. Dass er sich in der Ausführung vielfach vergriff und sich durch voreilige, aber bei dem damaligen Stande der Wissenschaften erklärliche Hypothesen berechtigte Angriffe zuzog, tut der Klarheit seines erkenntniskritischen Grundprinzips keinen Eintrag. Schlimmer war, dass er selbst das letztere im weiteren Verlauf seiner Untersuchungen von metaphysischen Gesichtspunkten überwuchern ließ.


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