4. Pascal
4. Eine eigentümliche Gestalt gewann die mystische Fortbildung des Cartesianismus in Blaise Pascal (1623 bis 1662) aus Clermont. Schon als 16jähriger Jüngling ein berühmter Mathematiker, ward er durch Überanstrengung seines frühreifen Geistes kränklich und zum Überdruß an aller Wissenschaft geführt. Von Asketenstimmung erfüllt (er trug einen Bußgürtel auf dem Leibe), kam er 1654 zu den Jansenisten von Port-Royal, den Vertretern der letzten größeren Reformbewegung in der französischen Kirche, die im Geiste Augustins auf religiös-sittliche Vertiefung drang. Seine berühmten Lettres à un provincial (1656-57) waren eine glänzende Vernichtung der jesuitischen Probabilitätsmoral; die unvollendet geblichenen Pensées (sur la religion) sollten eine große Apologie des Christentums werden. Philosophisch wichtiger ist das naturphilosophische Fragment Über das Leere und die Abhandlung Über den Geist der Geometrie. Aus der umfangreichen Pascal-Literatur sei die fesselnde Studie von A. Köster, Die Ethik Pascals (Tübingen 1907) hervorgehoben. Einen Überblick über diese Literatur gibt Bornhausen, Die Ethik Pascals (Gießen 1907). Vgl. ferner Strowski, Pascal et son temps, 1907 f. Die beste französische Ausgabe seiner Schriften (mit guten Einleitungen) ist die von E. Havet; die Pensées sind in deutscher Übersetzung von Herber-Rohow (E. Diederichs, Jena 1905) und mit Voltaires Anmerkungen von H. Hasse (Reclam 1918) erschienen. Eine neue französische Gesamtausgabe von L. Brunschvicg und P. Boutroux, Paris 1908 ff.
Einig mit Descartes ist Pascal im Kampf gegen die Autoritätssucht, in der Auffassung der Seele als einer von der Maschine des Körpers völlig verschiedenen Substanz, und in dem Glauben an die Unendlichkeit der Welt; auch für Galileis Lehre von der Erdbewegung trat er gegenüber den Jesuiten energisch ein. Päpstliche Verordnungen vermögen nichts gegen die Natur der Dinge. Dreht die Erde sich wirklich um sich selbst, so wird die ganze Menschheit nicht imstande sein, sie daran zu hindern. Gleich Descartes vertritt auch Pascal die Ansicht, dass durch die Anwendung der Mathematik auf das Naturerkennen die in beständigem Fortschreiten begriffene menschliche Wissenschaft entsteht. Und in seinen früheren Schriften bekennt er sich ganz zu der echten wissenschaftlichen Methode, die keinen Satz duldet, den sie nicht selbst aus ihren eigenen Definitionen abgeleitet hat, und deren Vorbild die Klarheit und Deutlichkeit der ersten mathematischen Prinzipien darstellt. Dort findet sich noch kein metaphysischer Skrupel an der Sicherheit der Wissenschaft; das Denken allein ist zum Richter über sich selbst berufen. Ja, noch in den Pensées heißt es: »Alle unsere Würde besteht im Gedanken. - Richtig zu denken, ist das Prinzip der Moral.« Aber zugleich vollzieht sich in ihnen bereits die paradoxe Wendung ins Ethisch-Religiöse. Diese ganze Wissenschaft, die »Naturphilosophie«, ist ihm - »nicht der Mühe einer Stunde wert«!
Denn philosophische Beweise können zwar allenfalls zu einem abstrakten göttlichen Wesen, einem »Gott der Wahrheit « führen, aber nicht zu dem Gott der Liebe, nach dem das geängstigte und liebebedürftige Menschenherz verlangt. Religion beruht allein auf dem Gefühl, ist die unmittelbare Erfahrung Gottes im Herzen. Könnte man Pascal in dieser Beziehung als einen Vorläufer Rousseaus bezeichnen, so bildet er in anderer das gerade Gegenstück zu ihm. Alles Natürliche erscheint ihm als gottlos, alle Menschen hassen sich von Natur, der Starke ist der Herrschende, auch das Eigentum eine bloß durch Gewalt aufrechterhaltene bürgerliche Einrichtung, und die ganze menschliche Gesellschaft nur auf Eigenliebe, Heuchelei und Gewalt gebaut. Es ist ein Leben voll von Widersprüchen. »Wir begehren die Wahrheit und finden in uns nur Ungewißheit. Wir suchen das Glück und finden nur Elend und Tod.« Aber aus diesem Leben des Elends und der Widersprüche rettet uns nicht die natürliche Vernunft - »Erniedrige dich, ohnmächtige Vernunft Schweige, blödsinnige Natur!« -, sondern einzig und allein die göttliche Gnade und der Glaube an die biblische Offenbarung. Pascal ist einer der entschiedensten Vertreter der calvinisch-jansenistischen Lehre von der Gnadenwahl. Zu diesem Glauben muß die Sinnlichkeit, wenn nötig, durch Gewöhnung (Weihwassernehmen, zur Messe gehen) gebracht werden; auch verschmäht Pascal die himmlischen Belohnungen und die Strafen der Hölle als Motiv desselben nicht. Bei etwaiger Unsicherheit über unser Schicksal nach dem Tode biete der Glaube in jedem Falle die größere Sicherheit. So deckt Pascals Ehrlichkeit und Folgerichtigkeit den unversöhnbaren Gegensatz zwischen der neuen Wissenschaft und der Kirchenlehre auf, den Descartes und die übrigen Cartesianer zu überbrücken gesucht hatten. Das Wort Pascals schlägt sie, dass »Gott niemals das Ende einer Philosophie sein kann, wenn er nicht deren Prinzip und Anfang ist«
Andere Konsequenzen zog aus ähnlichen Voraussetzungen der Skeptiker Bayle; doch ziehen wir vor, denselben erst an der Spitze der französischen Aufklärungsphilosophie zu behandeln (§ 23). Zunächst haben wir uns mit dem zweiten großen Systematiker des 17. Jahrhunderts zu beschäftigen, dem erst in neuerer Zeit recht gewürdigten Engländer Thomas Hobbes.