1. Methode
1. Der Ausgangspunkt von Descartes' Philosophieren ist am deutlichsten in den Regulae ad directionem ingenii zu erkennen. Diese seine Jugendschrift stellt zwar historisch nur eine Vorstufe zu seinen späteren metaphysischen Grundsätzen dar, dasjenige Stadium nämlich, in dem er sich Ende der zwanziger Jahre (1628-29) befand; aber die ihm eigentümliche Methode, die nach seinem eigenen Zeugnis (S. 6) um diese Zeit schon festgestellt war, ist ihrem Grundgedanken nach bereits vollständig in den »Regeln« enthalten, ja in reinerer Gestalt als in der späteren Metaphysik.
Nie und nirgends noch in der Philosophie der christlichen Völker war mit solcher Energie nach einem festen, von aller Autorität freien Angelpunkt der Erkenntnis gestrebt worden, als es hier geschah. Einmal im Leben, sagt Descartes in Regula VIII, muß jeder, der ernstlich nach Wahrheit strebt, sich die Frage vorlegen: Was ist Wahrheit? Was ist menschliche Erkenntnis, und welches sind ihre Grenzen? Ihre Beantwortung ist möglich, denn wir brauchen sie nicht aus Plato oder Aristoteles zu entlehnen, sondern finden sie in uns selbst. Das Universum der Dinge ist im Universum des Geistes enthalten. Die Wissenschaften bestehen ganz und gar in der Erkenntnis des Geistes, diese aber bleibt »eine und dieselbe« bei aller Verschiedenheit ihrer Gegenstände. Wie dieselbe Sonne alle Gegenstände erleuchtet und nicht von ihnen ihr Licht erborgt, so auch die eine allgemeine menschliche Erkenntnis (universalis sapientia). Worin aber liegt diese Einheit stiftende und damit Licht spendende Kraft der Erkenntnis? Allein in ihrer Methode, welche die Dinge in »gewisse Ordnungen « stellt, »so wie sie vom Intellekt erfaßt werden«, vom Verwickelteren zum Einfacheren aufsteigend, sie dadurch in durchgängige gedankliche Verknüpfung miteinander bringt und so schrittweise unser Wissen vermehrt.
Muster solcher methodischen Erkenntnis sind Geometrie und Arithmetik. Diese sind die zuverlässigsten und durchsichtigsten von allen Wissenschaften, sie »haben ein Objekt, wie wir es suchen«, das durch seine Einfachheit und Klarheit von selbst einleuchtet, wie ja alle Wahrheit klar und einfach ist. Die Mathematik zeigt uns den einzig richtigen Weg, der zur Erforschung der Wahrheit führt. Der »ganze Kunstgriff« besteht darin, dass wir, wie es in der analytischen Geometrie geschieht, Unbekanntes als bekannt annehmen, von dem dann das in Frage Stehende, auch das Bekannte, »als ob es unbekannt wäre«, in streng methodischer Stufenfolge abzuleiten ist. Es ist also nicht die oftmals trügliche Erfahrung, sondern die Methode der Deduktion, worauf es in erster Linie ankommt. Zwar ist auch die Induktion, schon wegen der Vollständigkeit der Einteilung eines Begriffs in seine Unterarten, nicht zu entbehren; aber sie führt nicht bloß zur Deduktion hin, sondern setzt eine solche auch bereits voraus. Die wahre Einsicht hat sich zwar an der Erfahrung zu bewähren, allein sie beruht auf der notwendigen Verknüpfung der Begriffe. Deren Quell aber ist der reine Verstand (mens pura), der »aus dem Lichte der Vernunft allein entspringt« Er heißt auch wohl »geistige Anschauung« (intuitus mentis), denn die allerersten Wahrheiten erschauen wir mit unmittelbarer Gewißheit, die den Gegenstand in »einem und demselben Akte« begreift. Vorbild ist auch hier die Methode der Mathematik. Von diesen ersten Elementen anhebend, schafft dann die Deduktion eine kontinuierliche, nirgends unterbrochene Kette von Erkenntnissen. »Wer die Kette der Wissenschaften überschaut« - so schrieb schon der Dreiundzwanzigjährige in sein Tagebuch - »dem wird es nicht schwerer erscheinen, sie insgesamt im Geiste zu beherrschen, als die Reihe der Zahlen zu behalten.« Jene universalis sapientia liegt allem Wissen, die universale Mathematik aller Erkenntnis von Maß und Ordnung, wie sie in der Astronomie, Musik, Mechanik und Optik geübt wird, und die besonderen Wissenschaften des Quantitativen wiederum aller Erkenntnis des Qualitativen zugrunde. Das erkenntnistheoretische Kriterium ist es, das unseren Philosophen zu seiner mechanischen Auffassung aller Naturvorgänge (»bei mir geschieht alles in der Natur auf mathematische Weise«) führt, das ihn sowohl von den Scholastikern wie von Bacos Experimentalmethode grundsätzlich scheidet. Seine Logik ist eine Logik des Erkennens und Forschens, nicht eine Klassifikation der Dinge.