3. Lehre vom Staate
(De cive - Leviathan)
Hobbes geht von der hergebrachten Definition des natürlichen Rechtes aus, wonach jedem das Seine zukommt. Was heißt aber »das Seine«? Das konnte ursprünglich nur durch Übereinkunft festgestellt werden. Andernfalls trat der Zustand des Krieges »aller gegen alle« ein; denn von Natur ist, wie er in der Lehre von den Affekten erklärt, homo homini lupus. Der Staat ist nicht, wie Aristoteles und Grotius meinen, durch den Geselligkeitstrieb, sondern durch den Selbsterhaltungstrieb des einzelnen entstanden. Aber in der menschlichen Natur wirkt noch etwas anderes als die bloßen Leidenschaften, nämlich die Vernunft. Der Selbsterhaltungstrieb selber treibt zur vernünftigen Selbstbeschränkung, nach der alten Regel: Was du nicht willst, dass man dir tu', usw. So entspringt aus dem bloßen Willen zur Macht oder der Idee des subjektiven Rechtes die Idee des objektiven Rechtes, der Friede, der auf dem Halten der Verträge, am letzten Ende auf dem vernünftigen Gesamtwillen beruht. Auf diese Weise entsteht nach der Konstruktion unseres Sozialphilosophen ein Volk und ein Staat als ein, wenn auch künstlicher, Organismus.
Der Konsequenz auf dem intellektuellen entspricht die Gerechtigkeit auf dem moralischen Gebiete, wie das »Unrecht« dem »Widerspruch« analog ist. Damit nun Gerechtigkeit geübt und die Verträge gehalten werden, muß der Staat in seinem sichtbaren Oberhaupte, dem Staatssouverän, unbeschränkte Machtvollkommenheit erhalten, denn er stellt die vereinigte Macht aller dar. Er oder vielmehr das Gesetz, und er nur als dessen Vollzieher, ist das öffentliche Gewissen, vor dem alle Privatmeinungen und Privatgewissen verstummen müssen. Der Staat als absolute Autorität hat allein zu entscheiden, was als gut und böse gelten soll; ein objektives Gutes gibt es nicht. Er kennt keine andere Richtschnur als das: salus publica summa lex esto. Ihr muß sich der Mächtigste wie der Geringste unterordnen: alle Klassenjustiz wird energisch verdammt. Gesellschaft, Freiheit, Eigentum können nur so lange existieren, als der Staat sie duldet. Nur sich selbst oder seinen Nächsten zu töten (etwa auf seinen Vater oder Bruder zu schießen), kann auch der Souverän nicht befehlen.
Aber dieser allmächtige Staat ist auf Vernunft, d. i. auf Gerechtigkeit, Bescheidenheit, Billigkeit, Treue, Menschlichkeit gegründet, und er hat den Vorzug, wenigstens der - einzige Herr zu sein. Allen anderen Autoritäten gegenüber bleibt der Staatsbürger frei, so namentlich gegenüber der Kirche. Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt, und der Klerus, der sich eigenmächtig zum Herrn in ihr aufgeschwungen hat, kann keinen Gehorsam fordern. Gedanken können nicht bestraft oder verboten werden, ihre Äußerung durch Wort oder Tat nur vom Staate, und zwar bloß, wenn es dessen Interesse erheischt. Im letzteren Falle kann unter Umständen selbst Aberglaube als »Religion« vom Staate festgesetzt werden; die Wunder vergleicht unser Philosoph einmal mit Pillen, die man ganz hinunterschlucken, aber nicht kauen muß, da man sie sonst wieder ausspeit. Von dem aufgeklärten Souverän indessen, welcher Vernunft und natürliches Recht als seine einzige Richtschnur ansieht, erwartet und verlangt Hobbes Befreiung von der kirchlichen Unterdrückungssucht zugunsten der Denk-, Lehr- und schriftstellerischen Freiheit, sowie auch der Freiheit des - Andersglaubens. »Denn nichts ist mehr geeignet, Haß zu erzeugen, als die Tyrannei über des Menschen Vernunft und Verstand.« Und »Unterdrückung von Lehren hat nur die Wirkung, zu einigen und zu erbittern, d.h. sowohl die Bosheit als die Macht derer, die sie bereits geglaubt haben, zu vermehren« Übrigens soll sich der Staat vor allzu starker Gesetzmacherei hüten; zu viele Gesetze bewirken Erstarrung oder Verwilderung und gleichen ausgelegten Schlingen. Die natürliche Freiheit der Bürger soll nur so weit eingeschränkt werden, als zum Wohle des Ganzen notwendig ist. Auf die Verfassungsform legt Hobbes keinen besonderen Wert. Grundsätzlich kann sein absoluter Staat Monarchie, Aristokratie oder Demokratie sein. Tatsächlich allerdings wird nach seiner Meinung die Demokratie leicht zu einer Aristokratie von Rednern, und bewahrt die Monarchie leichter vor heftigen Parteikämpfen.
Hobbes' Staat ist, bei aller Berufung auf die menschliche Natur, doch eine philosophische Konstruktion, ein Idealstaat. Die Einsicht in die Notwendigkeit eines solchen vernünftigen Staatswesens erhofft er von dem natürlichen Verlangen des Menschen nach ruhigem und bequemem Lebensgenuß, von dem negativen Interesse der Todesfurcht, vor allem aber von dem berechtigten Streben nach Schutz gegen Gewalt und von der Gleichheit friedlichen Verkehrs. Das Moderne seiner Tendenz besteht in der Opposition gegen das Überlieferte, historisch Gewordene. Auch von dem umfassendsten dieser organischen Gebilde, der kapitalistischen Gesellschaft, wie man heute sagen würde, soll der Staat unabhängig sein. Die Idee eines Staatssozialismus, eines sozialen Königtums sind Ausgestaltungen Hobbesscher Gedanken. Sein Staat kennt keine bevorrechteten Klassen. Die Kaufleute nennt er einmal »von Natur geschworene Feinde« des Staates und seiner Steuern; ihr ganzer Stolz bestehe darin, »grenzenlos reich zu werden durch die Weisheit des Kaufens und Verkaufens«. Von dem Lob, dass sie den ärmeren Klassen Arbeit geben, will er nicht viel wissen. Sie veranlassen nämlich nur arme Leute, »ihre Arbeit ihnen zu verkaufen zu ihren eigenen, der Kaufleute, Preisen«, sodass jene einen besseren Lebensunterhalt durch Arbeit in Bridewell (einem damals neu eingerichteten Zuchthaus) erlangen würden! Auch aus seinem Satze: Paulatim eruditur vulgus (= mit der Zeit wird auch das niedere Volk gebildet) spricht das Vertrauen zu der Kraft und Bildungsfähigkeit der von scheinbar radikaleren Freidenkern, wie Voltaire und Diderot, verachteten niederen Klassen.
Hobbes, der seinerseits die Grundsätze der modernen Naturwissenschaften (Galileis) zuerst auf das Gesamtgebiet des empirischen Wissens übertragen hat, ist auch selbst von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Folgezeit geworden. Locke hat seine Erkenntnislehre und Psychologie benutzt, Berkeley seine Metaphysik umgebildet, während seine Politik und Moral, wie wir bezüglich der letzteren sogleich sehen werden, unter seinen Landsleuten alsbald eine Gegenströmung hervorrief. In Frankreich gingen namentlich die Enzyklopädisten (Holbach und besonders Diderot), aber auch Rousseau und später Destutt de Tracy auf ihn zurück. In den Niederlanden hat er Spinoza, in Deutschland Leibniz und Pufendorf nachhaltig angeregt. Und seine radikale Methode in soziologischer Hinsicht trägt Keime in ihrem Schoß, deren Früchte erst heute langsam zu reifen beginnen.