2. Kants Stellung zur Mathematik
Im Gegensatz zu Goethe, der kein Organ für sie besaß, schätzte unser Denker schon in seiner vorkritischen Zeit die Mathematik so hoch, dass er sie als "Muster der höchsten Gewißheit" feiert, das die "wahrste Erkenntnis" spende (Dissert. von 1755. § 12), dass er durch sie nicht bloß seinen Verstand geschärft, sondern durch "die Unermeßlichkeit ihrer harmonischen Beziehungen" auch sein Gefühl gerührt findet, auf eine "erhabenere" Weise sogar als durch die "zufälligen" Schönheiten der Natur ('Beweisgrund' 1763, S. 47 f.). Das Kolleg über Mathematik freilich, das er in seinen ersten acht Magisterjahren für jedes Semester — bloß für Sommer 1759 sind keine Nachrichten erhalten — ankündigte, scheint sich nur mit der, wie wir wissen, auf den damaligen Gymnasien völlig vernachlässigten Elementar-Mathematik beschäftigt zu haben. Aber er regte nicht bloß ihm näherstehende Schüler, wie Kraus, gern zu mathematischem Studium an, sondern hat sich auch selbst bis in seine späteren Jahre öfters mit mathematischen Problemen beschäftigt. Das geht aus seiner Korrespondenz mit Rehberg über die Unmöglichkeit, die √2 in Zahlen zu denken (Herbst 1790), aus seinem Briefwechsel mit Johann Schultz, aus seiner Polemik gegen Reimarus (Okt. 1796), sowie aus den 17 erhaltenen 'Losen Blättern' seines Nachlasses hervor, die kürzlich Adickes mit eingehendem Kommentar im 14. Band der Akademie-Ausgabe veröffentlicht hat. Neben Berechnungen finden sich dort auch eine Reihe sorgfältig mit Lineal und Tinte ausgeführter, manchmal sehr verwickelter, planimetrischer Figuren; aus seinen Altersjahren sind zudem mehrere Zahlenspielereien erhalten, an denen er ja, wie auch einzelne Stellen seiner Schriften zeigen, ein gewisses Gefallen hatte.
Trotzdem würde er — und zwar mit Recht — selbst am ehesten dagegen protestiert haben, dass er ein bedeutender Mathematiker gewesen sei. In seiner mathematischen Polemik mit Kästner-Eberhard bedient er sich der Hilfe seines Fachkollegen Schultz, und noch am 19. November 1796 äußert er gegen Beck, die von Hindenburg (Leipzig) angeregte Anwendung der Kombinationsmethode auf die Philosophie übersteige seine mathematischen Kenntnisse viel zu weit, als dass er sie auch nur versuchen sollte. Sein Verhältnis zur Mathematik drückt sich vielmehr deutlich schon in seiner Abhandlung 'Von den negativen Größen' (1763) aus, in der er erklärt, er wolle dasselbe Problem, das Kästner vortrefflich mathematisch behandelt habe, seinerseits vom philosophischen Gesichtspunkt aus erörtern. Nur auf die philosophische Wertung der Mathematik kommt es ihm an. Um die Mitte der 70er Jahre hat er anscheinend sogar einmal besondere "Metaphysische Anfangsgründe der Mathematik" oder eine "Metaphysik der Größenlehre" schreiben wollen, die u. a. von "der Größe durch den Grad", von Einheit und Menge, von der kontinuierlichen und der "immensurabeln" Größe, vom Unendlich-Großen und Unendlich-Kleinen handeln sollte (Ak.-Ausg. XIV, 195 f.). Aber er hat eine solche besondere Philosophie der Mathematik dann doch aufgegeben und nur das Wichtigste davon in seine kritischen Schriften aufgenommen.
In ihnen preist er die Mathematik als den "Stolz der menschlichen Vernunft" (Kr. d. r. V., Orig. 492), den "Meister über die Natur" (ebd. 753), die evidenteste aller Wissenschaften. Die Prolegomena rühmen sie als "eine große und bewährte Erkenntnis, die schon jetzt von bewundernswürdigem Umfange ist und" — ein Zeugnis seiner Einsicht in die schöpferisch-zeugende Art aller echten Wissenschaft — "unbegrenzte Ausbreitung auf die Zukunft verspricht" (§ 6). Ja, in jeder besonderen Naturlehre steckt, wie die 'Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft' (1786) in ihrer Vorrede erklären, "nur so viel eigentliche Wissenschaft, als Mathematik in ihr anzutreffen ist". Und doch, selbst die Möglichkeit dieser sichersten und apodiktischsten aller Wissenschaften, dieses "glänzenden Beispiels, wie weit wir es unabhängig von der Erfahrung in der Erkenntnis bringen können", muß erst — durch die Transzendental-Philosophie gezeigt werden (Kr. 761).
Das geschieht in der Lehre von den notwendigen Voraussetzungen der sinnlichen Anschauung, dem ersten Teile der Kr. d. r. V.: der "transzendentalen Ästhetik". Die Mathematik beruht nämlich nicht, wie die Philosophie, auf bloßen Begriffen, sondern auf reiner Anschauung, in der sie ihre Begriffe unmittelbar darstellt, d. h. konstruiert. Zugrunde aber liegen allen mathematischen Erkenntnissen als "reine" Anschauungen oder "Formen" der sinnlichen Anschauung: Raum und Zeit; der erstere als die formale Bedingung aller äußeren Erscheinungen, die Zeit als die Form aller Erscheinungen überhaupt. Lassen wir von unserer Vorstellung eines Körpers alles fort, was zur Empfindung gehört, so bleiben Raum und Zeit immer noch übrig als nicht wegdenkbare Formen unserer sinnlichen Anschauung, wie dies die "metaphysische" Erörterung beider Begriffe darlegt. Den eigentlich durchschlagenden Gedanken jedoch bringt erst die in der zweiten Auflage der Kritik, im Anschluß an die Prolegomenen, hinzugefügte "transzendentale" Erörterung: beide (Raum und Zeit) ermöglichen erst die Wissenschaft der Mathematik. "Geometrie legt die reine Anschauung des Raumes zum Grunde, Arithmetik bringt selbst ihre Zahlbegriffe durch sukzessive Hinzusetzung der Einheiten in der Zeit zustande (Proleg. § 12). Die mathematische Raumvorstellung, dieser "Raum in Gedanken", ist kein erdichteter Begriff, sondern macht den physischen, d. i. die Ausdehnung der Materie, überhaupt erst möglich.
In diesem Sinne ist auch der von den Zeitgenossen des Philosophen an bis heute so vielfach mißverstandene Ausdruck a priori zu verstehen, aus dem man die Bedeutung des zeitlich Ersten, des "Angeborenen" gänzlich zu entfernen hat. Wenn Kant sagt: Raum und Zeit sind Anschauungen, die wir "von vornherein" (a priori) haben, so will er damit nicht sagen: sie sind uns angeboren. Die Frage, wie und wann die Raumvorstellung in der Seele des Kindes entsteht, interessiert wohl den Psychologen, aber nicht den Erkenntniskritiker. Dieser will nicht die Entstehung der wissenschaftlichen Erfahrung, sondern ihren fertigen Bestand untersuchen. Das a priori bedeutet nichts anderes als das, was die Grundlage aller Wissenschaft ist: "unbedingt notwendig" und "streng allgemein". — Ferner, damit, dass er alle äußeren "Gegenstände" in menschliche "Vorstellungen" auflöst, will Kant keineswegs die gesamte Sinnenwelt in lauter Schein verwandeln. Er unterscheidet vielmehr seine Ansicht ausdrücklich und sehr lebhaft von der des Berkeleyschen "Idealismus", der in der Tat alles außerhalb der denkenden Wesen Existierende leugne, während er (Kant) wirkliche körperliche Gegenstände außer uns annehme, von denen wir nur nicht wissen, "was sie an sich selbst sein mögen", weil wir sie eben bloß durch ihre Wirksamkeit auf unsere Sinne kennen. Um Mißverständnisse zu vermeiden, will daher Kant seinen Idealismus künftig den kritischen nennen (Schlußsatz des 1. Teils der Prolegomena).
Seine nächste Aufgabe ist 3. Die Begründung der "reinen" (mathematischen) Naturwissenschaft.