Die einzelnen Künste


Einen verhältnismäßig sehr knappen Raum, im Vergleich mit den heutigen Lehrbüchern der Ästhetik, nimmt in Kants Werk die Beleuchtung der einzelnen Künste ein: von den 264 Seiten des ersten Druckes kaum 20. Und doch Inhaltes genug. Weil die Schönheit der Ausdruck ästhetischer Ideen ist, lassen sich die schönen Künste nach den verschiedenen Arten des Ausdruckes überhaupt: dem Wort, das den Gedanken, der "Gebärdung", welche die Anschauung, und dem Ton, der die Empfindung wiedergibt, einteilen in: redende, bildende und die des schönen Spiels der Empfindungen. Zu den "redenden" zählt der Philosoph neben der Dichtkunst auch die — in den damaligen Universitätsprofessuren ja ebenfalls mit ihr verbundene — Beredsamkeit, welche "ein Geschäft des Verstandes als freies und unterhaltendes Spiel der Einbildungskraft ausführt", während umgekehrt der Dichter durch sein freies Ideenspiel dem Verstände Nahrung schafft und dessen Begriffen durch seine Phantasie Leben verleiht. Die bildenden Künste zerfallen in soiche der Sinnenwahrheit: Bildhauerei und Baukunst, und die des Sinnenscheins: Malerei, der auch die "Lustgärtnerei", ja in weiterem Sinne sogar die Kunst des schönen "Ameublements", der geschmackvollen Kleidung, der schönen Ausschmückung überhaupt verwandt ist; wie ja auch die Baukunst vom prachtvollen Tempel bis zur Arbeit des einfachen Tischlers sich erstreckt. Zu der Kunst des "schönen Spiels der Empfindungen" gehört außer der Musik auch die (kurz vor dem Weltkriege auf der Kölner Werkbund-Ausstellung eine Rolle spielende) und jetzt von Ostwald mit Vorliebe behandelte "Farbenkunst"; der musikalischen Tonleiter entspricht eine Stufenfolge von Farben, deren jede gleichsam eine besondere Sprache zu uns redet (§ 42).

Diese schönen Künste können sich nun wieder untereinander verbinden. So die Beredsamkeit mit der malerischen Darstellung zum Schauspiel; Dichtung und Musik im Gesang und, wenn die theatralische Darstellung noch hinzukommt, in der Oper; Musik und das "Spiel der Gestalten" im Tanz. Erhabener Inhalt und schöne Form vereinen sich im gereimten Trauerspiel, Oratorium und — Lehrgedicht.

Am höchsten von allen Künsten stellt Kant die Dichtkunst, weil sie "fast gänzlich" dem Genie ihren Ursprung verdankt, die Einbildungskraft am meisten beflügelt, das Gemüt durch Ideen stärkt und erweitert, mit dem Scheine spielt, ohne doch zu betrügen, und hinter ihrer schönen Form eine Gedankenfülle birgt, "der kein Sprachausdruck völlig gleichkommt". Am wenigsten dagegen hält er von der ihm nicht ehrlich genug dünkenden Kunst der Beredsamkeit. Man könnte denken, dass schon die ewigen Redeübungen seiner Schulzeit, später die ebenso gekünstelten offiziellen Universitätsreden, die er mit anhören oder gar selbst halten mußte, ihm diese Kunst verleidet hätten. Aber er hat mit seinem Tadel nicht sowohl diese "bloße Wohlredenheit" oder "Eloquenz" im Auge, als die Kunst zu überreden, "das ist durch den schönen Schein zu hintergehen", wie sie vom Gerichts-, Volks-, Kanzel- oder Parlamentsredner geübt werde. Demgegenüber hält er es mit dem alten, ehrlichen Grundsatz des 'Pectus disertum facit': klare sachliche Einsicht, Reichtum (nicht Üppigkeit) der Phantasie, reine Sprache, lebhafter Herzensanteil am wahren Guten machen den wahrhaft großen Redner.

Was Reiz und Bewegung des Gemüts angeht, steht der Poesie die Tonkunst am nächsten. Denn obwohl sie nur durch Empfindungen ohne Begriffe zu uns spricht, so ergreift sie doch das Gemüt, wenngleich vorübergehend, mannigfaltiger und inniger. Als "Sprache der Affekte" ist sie jedermann verständlich, und durch ihre harmonische und melodische Behandlung eines Themas ruft sie eine "unnennbare Gedankenfülle" in dem Hörer hervor. Hinsichtlich der "Kultur", das heißt Veredlung des Gemüts, dagegen stehen die bildenden Künste weit höher als die Musik. Sie sind von bleibendem, letztere nur von vorübergehendem Eindruck; öftere Wiederholung derselben Melodie erweckt Überdruß. Jene leiten von bestimmten Ideen zu Empfindungen, die Kunst der Töne nur von Empfindungen zu unbestimmten Ideen. Von den bildenden Künsten zieht Kant die Malerei vor, teils weil sie als "Zeichnungskunst" den anderen zugrunde liege, teils auch, weil sie "weit mehr in die Region der Ideen einzudringen" vermöge.

Zum Schluß seiner Ästhetik, die von der 'Methodenlehre des Geschmacks' handelt (Kr. d. Urt, § 60), erhebt sich der Philosoph noch einmal zu einer Gesamtwürdigung der Kunst und des Schönen. Wahrheit ist zwar unumgängliche Vorbedingung der schönen Kunst, aber diese noch nicht selber. Das Kunstwerk kann nicht wissenschaftlich gelehrt, sondern muß vom Meister "vorgemacht" werden nach dem Ideal, das ihm vor Augen steht. Die wahre Vorbildung zur schönen Kunst beruht nicht auf einzelnen Vorschriften, sondern in der "Kultur der Gemütskräfte", das heißt in der Humanität, nicht nur als "allgemeinem Teilnehmungsgefühl", sondern als "Vermögen, sich innigst und allgemein mitteilen zu können": wie sie in dem "wunderbaren Volk der Griechen" zu einzigartiger Ausbildung gelangt ist, welches das schönste Beispiel von der "glücklichen Vereinigung des gesetzlichen Zwanges der höchsten Kultur mit der Kraft und Richtigkeit der ihren eigenen Wert fühlenden freien Natur" für alle späteren Zeitalter gegeben hat. Die wahre Propädeutik aber zum künstlerischen Geschmack ist die Entwicklung sittlicher Ideen, mit denen "die Sinnlichkeit in Einstimmung gebracht wird". Diese Gründung auf das sittliche Gefühl empfiehlt er auch seinem früheren Schüler, dem Komponisten Reichardt, und hofft zugleich, dass die Grundzüge, die er (Kant) von dem "so schwer zu erforschenden" Geschmacksvermögen entworfen habe, durch die Hand eines so feinen Kenners wie Reichardt "mehrere Bestimmtheit und Ausführlichkeit bekommen könnten" (K. an R., 15. Okt. 1790). Darum stellt er indessen keineswegs die Moral über die Kunst. Er ist überhaupt weit davon entfernt, dem schönen Schein, mit dem uns die Kunst über die Schwere des Erdenlebens in eine ideale Welt der Dichtung entrückt, für entbehrlich zu halten; weiß er doch, dass nicht bloß der Maler, der Baumeister, der Musiker, sondern auch der Metaphysiker "dichtet" (Akad.-Ausg. XV, S. 703). "Laßt uns", sagt er einmal in einem Kollegentwurf aus der Mitte der 70er Jahre, "von dem, was nicht in unserer Gewalt ist, den schönen Schein nicht wegnehmen, wodurch uns Menschen beliebt, das Leben hoffnungsvoll, die Übel erträglich werden" ... Nur "uns selbst müssen wir ohne Verschonen das Blendwerk abziehen" (ebd. S. 687). So werden Kunst und Sittlichkeit reinlich voneinander geschieden, jede von beiden auf den ihr eigentümlichen Boden gewiesen.


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