Gegen Pedanterie - Kasuistischen Fragen
Doch damit sind wir schon bei seinen sozialen Anschauungen angekommen, die an späterer Stelle im Zusammenhang beleuchtet werden sollen. Nur auf einen allgemeinen Zug von Kants praktischer Sittenlehre müssen wir noch hinweisen, weil vielfach fälschlich das Gegenteil angenommen wird. Wie auf wissenschaftlichem, so war auch auf ethischem Gebiet unser Denker ein Feind aller Pedanterie und Kleinigkeitskrämerei, die "alle Schritte und Tritte des Menschen mit Pflichten als mit Fußangeln bestreut und es nicht gleichgültig findet, ob ich mich mit Fleisch oder Fisch, mit Bier oder Wein, wenn mir beides bekömmt, nähre: eine Mikrologie, welche, wenn man sie in die Lehre der Tugend aufnähme, die Herrschaft derselben zur Tyrannei machen würde" (Tugendl. Einl. S. XVII). Von seiner psychologischen Weitsichtigkeit und Weitherzigkeit, bei aller sittlicher Strenge und Folgerichtigkeit, zeugen die den meisten Abschnitten der Tugendlehre beigegebenen "kasuistischen Fragen", inwieweit etwa doch Ausnahmen von der strikten Regel, z. B. in der Frage des Selbstmords, der Notlüge, des Weingenusses, unter bestimmten Umständen erlaubt sein können. Wir stoßen da auf so nachdenksame Fragen wie die: Ist das vorsätzliche Märtyrertum eine Heldentat? War Friedrich der Große im Recht, wenn er während des siebenjährigen Krieges ein schnell wirkendes Gift bei sich führte? Soll man den Weingenuß "bis nahe an die Berauschung" gut heißen, weil er doch "die Gesellschaft zur Gesprächigkeit und Offenherzigkeit belebt", ja vielleicht sogar den Mut stärkt? Soll man einem Autor, der ein Urteil über sein Werk hören will, die volle Wahrheit sagen? Ist Sparsamkeit eine Tugend? Wie weit soll man den Aufwand seines Vermögens im Wohltun treiben? Wie weit mit Lasterhaften Umgang pflegen? Selbst vor der Berührung heikler Probleme scheut er dabei nicht zurück: Ist der geschlechtliche Verkehr auch ohne den Zweck der Fortpflanzung erlaubt? Und wie weit ist sinnliche Lust mit wahrer, "moralischer" Liebe vereinbar? Schon in der Aufwerfung solcher Fragen bewährt sich der erfahrene und weitsichtige Menschenkenner, der zwar an der Strenge der sittlichen Forderung festhält, aber doch nach seinem Lieblings-Wahlspruche "nichts Menschliches sich fremd sein" läßt.