Fünftes Kapitel
Kant und die Kunst


Über Kants Kunstphilosophie liegen wertvolle Untersuchungen vor. Sein Verhältnis zu den einzelnen Künsten dagegen ist überhaupt noch nicht im Zusammenhang dargestellt worden. Vielleicht, weil man gemeint hat, bei dem "nüchternen" Kant könne davon überhaupt keine Rede sein. Wie wenig oder wie viel das zutrifft, werden wir in diesem Kapitel zu zeigen haben.

Wie stand er zunächst zur



1. Dichtkunst?


Als Immanuel Kant auf der Universität zum jungen Mann heranwuchs, also in den Jahren stand, wo der jugendliche Geist am empfänglichsten für poetische Eindrücke zu sein pflegt, hatte eben Gellert an Gottscheds Stelle die Herrschaft auf dem deutschen Parnaß angetreten, war die Epoche einseitiger Verstandeskultur durch eine solche der Gefühlsseligkeit abgelöst worden. Der Leipziger Dichter-Theologe stieß unseren Studiosus wohl schon durch seinen geistigen Zusammenhang mit dem im Fridericianum zur Genüge gekosteten Pietismus ab. Aber auch die poetische Wertlosigkeit des über Gebühr berühmten Mannes hatte er wohl bald erkannt. Wenigstens in seinen späteren Vorlesungen schließt er sich dem Urteil eines "strengen Rezensenten" [Lessing?] an: Gellert sei höchstens in der Fabel glücklich, im übrigen kein "eigentlicher" Dichter, sondern ein Pseudopoet. Auch vor seinen Romanen warnte er in den 70er Jahren seine Zuhörer: "Gellert bläht das Gemüt mit solchen moralischen Dünsten und Sehnsüchten auf und bringt den Wahn bei, dass es schon genug sei, wenn man nur solche Empfindungen hat, ohne tätiges Wohlwollen; ja er flößt nicht einmal wahre Empfindungen der Menschlichkeit ein, sondern macht nur, dass wir solchen Charakter bewundern" (S. W. XIV, S. 71 Anm.).

Indes auch der erste wirkliche Dichter, der in dieser Periode der Seicbtigkeit aus seiner Umgebung emporragt, Klopstock, hat selbst in seiner besten Zeit, in der die ersten Gesänge des Messias und die frühesten Oden entstanden, keine nachhaltige Wirkung auf den jungen Kant ausgeübt. Die Einsamkeit seines damaligen Hauslehrertums allein kann der Grund nicht gewesen sein; denn er stand auch während dieser Zeit mit Königsberg in geistigem Zusammenhang. Hätte Klopstock wirklich einen überwältigenden Eindruck, ähnlich dem ersten Rousseaus, auf ihn gemacht, so müßte das irgendwie und irgendwo zum Ausdruck gekommen sein. Statt dessen lehnt er ihn an den Stellen seiner Vorlesungen und seines Nachlasses, die von ihm handeln, überall ab. Auch hier drängt sich wieder Kants Geistesverwandtschaft mit Lessing auf. Genau, wie dieser in den Literaturbriefen die geistlichen Oden des Messiassängers "Tiraden der Phantasie" nennt, so voll von Empfindung, "dass man oft gar nichts dabei empfinde", so gilt auch Kant Klopstock als kein "Dichter im eigentlichen Verstände"; er rühre nur "per Sympathie", indem er sich selber gerührt zeige, "und wenn man seine Schriften mit klarem Blute liest, so verlieren sie viel". Lasse man das Metrum und die Bilder weg, so rühre er den Leser nicht mehr. Beider, Lessings wie Kants, männliche Art wehrt sich gegen die Sitte der Zeit, die innersten persönlichen Empfindungen auf den Markt zu tragen. "Die Bewegung seines eigenen Gemüts hinter der Abschilderung der Sachen, die sie erregen, verstecken": das macht nach Kant in Wahrheit den tiefsten Eindruck; deshalb wirkt der Astronom tiefer als die "Andächtigen, welche die Größe Gottes mit Lobsprüchen erheben" (XV, S. 326). Darum kann es auch nicht der Gegenstand des Messias allein gewesen sein, der ihn abstieß. Denn Milton, den er öfters mit Klopstock zusammen nennt, wird von ihm als Dichter hoch geschätzt; des Engländers religiöse Gestalten waren eben lebensvoller als die schemenhaften der Messiade. Dazu kam Kants persönliche Abneigung gegen reimlose Poesie, die er wohl auch "tollgewordene Prosa" nannte. Er spricht von Klopstocks "ungewöhnlichem" "abgebrochenem", "halb polnischen" (!) Stil. Auf ihn scheint auch folgendes Lose Blatt aus den 70er Jahren gemünzt: "Wenn die Empfindungssprache nur nach dem Lapidarstil abgesetzt ist und in reimfreien Zeilen ohne wirklich Sylbenmaß, so geht die Einbildung sogleich auf Stelzen. Es ist, als wenn man die Grimassen von einem Affekt macht und dadurch sich selbst darin versetzt" (XV, 390 f.). Auf Klopstock selbst *) oder mit ihm verwandte Seelen. Denn damit ist natürlich auch die gesamte, auf bloße Rührung und Erregung der "Empfindsamkeit" abzielende Poesie, wie sie in Millers Sigwart, im Göttinger Hainbund, in Youngs Ossian und teilweise doch auch im Werther ihre Blüten trieb, mit verurteilt.

 

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*) Klopstock revanchierte sich später durch mehrere, zumeist erst nach beider Tod veröffentlichte, gegnerische Epigramme, die man bei Schlapp (a. a. O., S. 175) nachlesen kann.


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