3. Musik


Auch zur Tonkunst hat Kant ein nahes, innerliches Verhältnis anscheinend nicht besessen. Allerdings war zu der Zeit, wo er in der Blüte des Mannesalters und zugleich am stärksten im geselligen Leben seiner Vaterstadt stand, Theater und Konzerte besuchte, das heißt um die Mitte der 60er Jahre, die große Zeit des Oratoriums schon vorüber, Bach und Händel tot, während Gluck eben erst neue Wege in der Oper einzuschlagen begann. Haydn war ein außerhalb Österreichs noch ziemlich unbekannter junger Mann, während Mozart erst als musikalisches Wunderkind die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen anfing, Beethoven das Licht der Welt noch nicht erblickt hatte. Immerhin hatten die Königsberger öfters Gelegenheit, gute Musik zu hören. Es gab eine größere Anzahl tüchtiger Virtuosen in der Stadt, von denen namentlich der nachmals in Keyserlingschen Diensten stehende Kammermusikus Goldberg und der Oratorien-Komponist, Violinist und Musikdirektor Benda († 1792) auch außerhalb Ostpreußens einen guten Namen hatten. Das Theater veranstaltete neben den Schauspiel- auch Opernvorstellungen, wie denn z. B. Abegg gelegentlich des Königsbesuches im Sommer 1798 eine wohlgelungene Aufführung der 'Zauberflöte' erlebte.

Der bekannte Komponist Joh. Friedr. Reichardt, Sohn eines Königsberger Musikers, erzählt in seiner Selbstbiographie,1) zum Jahre 1767, dass Kant ihn und seinen Vater in musikalischen Abendgesellschaften getroffen und, da er sich an dem hellen Verstand des 15jährigen Knaben erfreut, dem Vater geraten habe, ihn von der Musik abzubringen und dem Studium zuzuführen. Er meint auch, dass der Philosoph "schöne Künste nie geübt und sie auch nicht besonders geliebt" habe. Jedenfalls hat er nie ein Instrument gespielt und besaß auch kein solches in seiner Wohnung.

Öfteren Konzertbesuch scheint er nur in seinen jüngeren Jahren gepflegt zu haben. Das letzte Mal wäre es nach Wasianski bei einer Trauermusik zu Ehren des 1786 gestorbenen Moses Mendelssohn gewesen, die ihn durch ihr "ewiges lästiges Winseln", das heißt ihre beständigen Klagetöne, abgeschreckt hätte. Dass er bei einer solchen Gelegenheit auch andere Empfindungen, so die des Sieges über den Tod oder der "Vollendung" ausgedrückt wissen wollte, stellt übrigens seinem musikalischen Empfinden gar kein übeles Zeugnis aus. Nach Äußerungen in seinen Vorlesungen zu urteilen, hörte er lieber als einzelne Virtuosen ein volles Orchester. Damit stimmt auch, was Wasianski von einem Besuche Kants und Hippels in seinem Hause am 15. September 1795, um einen von ihm (Wasianski) selbst gebauten, heute im Besitz der Altertumsgesellschaft Prussia (Königsberg) befindlichen Bogenflügel zu hören, berichtet: "Ein Adagio mit einem Flageolettzuge, der dem Ton der Harmonika ähnlich ist, schien ihm mehr widerlich" als gleichgültig zu sein; aber bei geöffnetem Deckel in der vollsten Stärke gefiel ihm das Instrument ungemein, besonders wenn eine Symphonie mit vollem Orchester nachgeahmt wurde.2)" Eine Nachlaßnotiz spricht von der "unwillkürlichen Aufmerksamkeit" auf das "widrige" Stimmen der Instrumente (XV, S. 50). Wenn er in seiner Jugend gern eine komische Operette 'Der lustige Schuster' gesehen und in seinem Alter gern der an seinem Hause vorbei zur Schloßwache ziehenden Militärmusik zugehört haben soll, so braucht das an sich ebensowenig als ein Zeichen schlechten Geschmacks aufgefaßt zu werden, wie sein Behagen an derben volkstümlichen Versen und Anekdoten an sich schon ein unfeines dichterisches Empfinden beweist. Von Volksmelodien liebte er unter anderen besonders die des bekannten Rheinweinliedes: "Bekränzt mit Laub den lieben, vollen Becher" und soll sie "mit der ihm eigenen kindlichen Offenheit" einst für "das Höchste der musikalischen Komposition — in dieser Gattung" erklärt haben.3)

Indes, mag auch seine Liebe zur Musik keine besonders große gewesen sein — junge Leute pflegte er vor ihr ebenso wie vor dem Dichten, frühem Spiel und dem "Umgang mit Frauenzimmern" zu warnen und noch in der Anthropologie gilt sie ihm als bloßes "Vehikel" der Dichtkunst und dieser weit untergeordnet! —: er hatte sich doch mit ihr so weit vertraut gemacht, als es für einen Philosophen notwendig war. Aus einer Notiz seiner Reflexionen (XV, Nr. 639) geht hervor, dass er z. B. die Musiktheorie des durch Goethe auch bei uns bekannt gewordenen Franzosen Rameau (1683—1764) — obwohl vielleicht nur mittelbar aus der Polemik Rousseaus und dem Enzyklopädie-Artikel d'Alemberts über den Generalbaß — gekannt hat. Rameaus Ansicht, dass die Harmonie die Grundlage der ganzen Musik und auch die ästhetische Wirkung der letzteren ihr in weit stärkerem Maße als der Melodie zu verdanken sei, schloß auch Kant sich an, wie dies in den erhaltenen Vorlesungsnachschriften öfters hervortritt. Dass er sich überhaupt mit musikalischen Problemen ernster beschäftigt haben muß, zeigt der Umstand, dass er sie in seinem logischen, später seinem Anthropologiekolleg mit feinem Verständnis berührte; und mit solchem Scharfsinn, dass ein moderner Musiktheoretiker ihn als Begründer sowohl der Formal- als der Inhalts-Ästhetik der Gegenwart bezeichnet hat,4) indem eben sein Begriff der inhaltreichen Form den Gegensatz beider überwindet. Wie in der Malerei der Zeichnung, so gab er auch in der Tonkunst der auf den mathematischen Proportionsgesetzen beruhenden Harmonie und Symmetrie nebst dem Takt 5) den Vorzug, weil nur diese in zwar subjektive, aber doch allgemeine Regeln gefaßt werden können. Er weiß aber andererseits, dass ein nach allen musikalischen Regeln vertontes Stück uns dennoch ungerührt läßt, falls es nicht durch den Reiz der Töne auf unsere Empfindung wirkt. Denn "in der Musik hat man von den Tönen keine Begriffe, aber wohl Empfindungen" (Nr. 643). Ja, sie wird geradezu als "Spiel der Empfindungen" bezeichnet. Es erinnert beinah an Richard Wagner, wenn er ein andermal meint, ein jeder Ton sei "gewissen Ausdrücken der Leidenschaft ähnlich", während die folgende Bemerkung, dass die Einheit im "Thema" liege, ihn wieder mehr unseren musikalischen Klassikern nähert. Und wenn er die Musik auch hinsichtlich ihrer kulturellen Bedeutung anderen schönen Künsten nachsetzt, da sie nicht auf das Denken, sondern nur, allerdings aufs stärkste (Nr. 282), auf unsere Empfindungen oder Sinne wirke, "Affekt anzeigt" (Nr. 735) — einmal vergleicht er ihre belebende Kraft gar "geistreichen Getränken" (793) —, so meint doch die Anthropologie (§ 30), dass sie auch das philosophische Denken durch Beflügelung der Phantasie zu beleben vermöge; freilich nur indirekt, indem sie auch den Dichter oder Philosophen, der nicht Kenner sei, in eine dem Erhaschen anregender Gedanken günstige Stimmung versetze. Ja, er versteigt sich gelegentlich zu der Behauptung, dass unmusikalische Menschen "oft" auch für einen schönen Stil, für Poesien und sogar für die Reize der Natur keine Empfindung hätten.

 

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1) Teilweise veröffentlicht in der Reichardt-Biographie von Schletterer, Augsburg 1861. Reichardts tiefe Dankbarkeit gegen Kant in philosophischer Beziehung (s. unten S. 393) ergibt sich aus Akad.-Ausg. XIII, S. 283.

2) Wasianski, a. a. O., S. 152; vgl. Kants Ankündigung des Besuchs, Briefw. III, S. 41, über den Flügel auch O. Schöndörffer in Altpreuß. Monatsschrift 39, S. 617.

3) In dem Bericht über die 100 jährige Geburtstagsfeier Kants in der Königsberger Hartungschen Zeitung vom 26. April 1824, bei der ein von Prof. Rhesa nach dieser Melodie gedichtetes Festlied gesungen wurde, dessen letzte Strophe lautete:

"Er schlumm're sanft im Hügel der Zypressen

Hier an des Pregels Rand.

Singt, Freunde, singt, soll keine Zeit vergessen

Den teuren Namen Kant!"

4) Marschner in Kantstudien III 19 ff., 206 ff.

5) Vgl. auch das hübsche musikalische Gleichnis: "Alle Schönheit in der Natur ist nur die Melodie, und in der intellektuellen Welt ist der Takt" (Nr. 700).


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