A. Geschichtsphilosophie
Kants Verhältnis zur Geschichte
Kant will kein Historiker sein. Das geschichtliche Interesse tritt bei ihm hinter dem Vernunftinteresse weit zurück. Wie er einmal meint, dass Vernunftlehrer "gemeiniglich" historisch unwissend seien, so hat er in seiner Rezension Herders (s. u.) von sich selbst, freilich halb-ironisch, bekannt, dass er, "wenn er einen Fuß außerhalb der Natur und dem Erkenntnisweg der Vernunft" setze, sich "nicht zu helfen" wisse, da er "in gelehrter Sprachforschung und Kenntnis oder Beurteilung alter Urkunden gar nicht bewandert" sei. "Ich werde ja meinen Kopf nicht zu einem Pergament machen, um alte, halb verloschene Nachrichten aus Archiven darauf nachzukritzeln," lautet eine Reflexion der 70er Jahre.
Selbst die Geschichte seiner eigenen Wissenschaft nimmt seine Aufmerksamkeit nur sehr bedingt in Anspruch. Er hat Geschichte der Philosophie in seiner langen akademischen Laufbahn als besonderes Fach überhaupt nicht, sondern bloß als sehr abgekürzten Teil oder Anhang eines Einführungskollegs "Enzyklopädie der gesamten Philosophie", und zwar nur in den Jahren zwischen 1767 und 1782, gelesen. Man beachte, wie selten er in seinen Schriften von seinen philosophiehistorischen Kenntnissen Gebrauch macht, wie sporadisch sein "flüchtiger Blick" auf die 'Geschichte der reinen Vernunft' im Schlußabschnitt seines Hauptwerks ausfällt. Er verlangte von einer Geschichte der Philosophie, die diesen Namen verdiene, nicht eine bloße Geschichte "der Meinungen, die zufällig hier oder da aufsteigen", sondern eine Darstellung "der sich aus Begriffen entwickelnden Vernunft" (Reicke, Lose Blätter, S. 588). Er freute sich deshalb, in dem Verfasser eines Werkes über Platos Staat, Karl Morgenstern, "den Mann zu finden, der eine Geschichte der Philosophie nicht nach der Zeitfolge der Bücher, sondern nach der natürlichen Gedankenfolge, wie sie sich nach und nach aus der menschlichen Vernunft hat entwickeln müssen, abzufassen" und so die von ihm selbst in jenem Schlußabschnitt gegebenen Umrisse auszuführen imstande sei.
Und wie stellt er sich zur geschichtlichen Wissenschaft überhaupt, die freilich zu seiner Zeit noch in ihren Anfängen lag? In der Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen vom Wintersemester 1765/66 erscheint sie ihm, falls ihr nicht physische, moralische und politische Geographie als Grundlage dienen, "von Märchenerzählung wenig unterschieden". Die historischen Wissenschaften, zu denen außer der eigentlichen Geschichte auch Sprachkunde, Naturbeschreibung, positives Recht usw. gehören, werden immer wieder, besonders häufig in den Reflexionen, den "eigentlichen" oder rationalen Wissenschaften. Mathematik und Philosophie entgegengesetzt. Ja, im strengen Sinn ist ihm Geschichte gar keine Wissenschaft. Noch im zweiten Abschnitt des 'Streits der Fakultäten' (1798) wird die Frage: "Wie ist eine Geschichte a priori möglich?" kurzerhand mit der spöttischen Antwort abgetan: "Wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum voraus verkündet."
Trotzdem will er dem "empirischen" Historiker sein Recht keineswegs verkürzen. Er wünscht sich und seinesgleichen sogar ausdrücklich die Vorarbeit eines historisch-kritischen Kopfs, der aus der zahllosen Menge von Völkerbeschreibungen, Reiseschilderungen usw. die Widersprüche entfernt, das Glaubwürdige herausschält. Selbstverständlich ist historische Gelehrsamkeit durchaus nötig, in diesem Sinne ist der Satz gemeint: "Mathematik, Philosophie und Geschichte müssen immer bleiben" (Ak.-Ausg. XV, Nr. 430). Ihm selbst als Philosophen aber ist es nicht um die Erforschung der historischen Einzelheiten, sondern, ähnlich wie bei der Naturgeschichte der Erde (Buch II, Kap. 1), um die philosophische Würdigung der Menschheitsentwicklung zu tun. "In der Historie", sagt eine andere Niederschrift der 70er Jahre, "ist nichts Bleibendes ... als die Idee der Entwicklung der Menschheit" und ihres Rechtes. Die bisherige Geschichtsschreibung war meist biographisch oder kosmographisch; sie krankte daran, dass ihre Verfasser "die Ehre der Fürsten in ihrem Heldengeist" priesen und noch "Heber im Lager waren als im Kabinett". Demgegenüber bezeichnet er als seine Methode die "kosmopolitische", als deren Thema die Entwicklung der Menschheit (nicht der Menschen) zur "Vollkommenheit durch Freiheit vermittels der einander entgegenstrebenden Triebfedern der Tierheit vom Minimo der Naturgeschicklichkeit an" (ebd. 1468), also in heutiger Sprache: die Kulturgeschichte, die nicht von "Kriegen und Eroberungen" handelt. Und auch an diese geht er nicht mit dem Auge des Historikers, sondern dem des Philosophen. Sein Blick ist in erster Linie der Entstehung und Fortentwicklung von Religion und Moral, Recht und Staat, ist dem Woher? und Wozu?, mithin den Anfängen und Zielen der Menschheitsgeschichte zugewandt.
Natürlich hatte Kant auch schon vor 1784 manches von seinen geschichtsphilosophischen Ideen gelegentlich in seine Vorlesungen, Schriften, Gespräche eingestreut. So hatte z. B. das Programm von 1775 'Von den verschiedenen Rassen der Menschen' bereits den Satz ausgesprochen, dass "in der Vermengung des Bösen mit dem Guten die großen Triebfedern liegen, welche die schlafenden Kräfte der Menschheit in Spiel setzen und sie nötigen, alle ihre Talente zu entwickeln und sich der Vollkommenheit ihrer Bestimmung zu nähern". Nun ließ ein Gelehrter, der ihn in Königsberg besucht, in die 'Gothaischen Gelehrten Zeitungen' vom 11. Februar 1784 die Notiz einrücken: "Eine Lieblingsidee des Herrn Prof. Kant ist, dass der Endzweck des Menschengeschlechts die Erreichung der vollkommensten Staatsverfassung sei, und er wünscht, dass ein philosophischer Geschichtsschreiber es unternehmen möchte, uns in dieser Rücksicht eine Geschichte der Menschheit zu liefern und zu zeigen, wie weit die Menschheit in den verschiedenen Zeiten diesem Endzweck sich genähert oder von demselben entfernt habe, und was zu Erreichung desselben noch zu tun sei." Diese Notiz war eingestandenermaßen für Kant der äußere Anlaß zu seiner im Novemberheft 1784 der Biesterschen Zeitschrift veröffentlichten ersten und zugleich bedeutendsten geschichtsphilosophischen Abhandlung: 1. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.*)
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*) Ich muß bezüglich des genaueren Inhalts und Gedankengangs dieser und der folgenden geschichtsphilosophischen Aufsätze Kants wiederum auf diese selbst und meine Einleitung zu der Ausgabe derselben (Bd. 47 I der Philos. Bibl.) verweisen und hebe oben nur das Charakteristische hervor.