Zweites Kapitel
Die neue Ethik

Die ethischen Schriften


Kants ethisches Interesse ist von Anfang an nicht minder groß gewesen als sein theoretisches. Und zwar nicht bloß das des Menschen, sondern auch das des Philosophen: er hat ungefähr 28 mal Moral- oder Praktische Philosophie (Ethik) gelesen. Ebenso aber auch das des Schriftstellers. Wir haben gesehen, dass er bereits Mitte der 60er Jahre 'Metaphysische Anfangsgründe der praktischen Weltweisheit' entworfen hatte. Sie werden verworfen; aber für Winter 1770/71 neue Untersuchungen über die "reine moralische Weltweisheit", in der "keine empirischen Prinzipien anzutreffen sind", geplant (an Lambert, 2. Sept. 1770). Um 1772 sollen sie einen Teil des beabsichtigten Hauptwerks bilden. Er fühlt sich Ende 1773 gerade über diesen Teil bereits so klar, dass er ihn zuerst herausgeben will und sich besonders darauf freut. Dann tritt er jedoch durchaus hinter die große theoretische Arbeit zurück. Aber alsbald nach dem Erscheinen der Kr. d. r. V. arbeitet er wieder an der schon so lange geplanten Metaphysik der Sitten; eine von A. Warda in Scheffners Nachlaß aufgefundene Vorarbeit zu den Prolegomenen zeigt, dass um diese Zeit, also 1782, die Grundsätze seiner kritischen Ethik schon feststehen. Indes die Vollendung wird noch einmal durch die Abfassung der Prolegomena zurückgedrängt. Anfang 1784 beschäftigt ihn einige Monate lang der Gedanke, seine ethische Schrift in eine Polemik gegen Garves Abhandlungen zu Cicero De officiis oder gegen letztere selbst zu kleiden. Doch, an sich schon kein Freund von Gelehrten-Polemik, kehrt er bald zu dem Plan einer Sonderschrift zurück. Zuletzt noch durch die Druckerei verzögert, erscheint endlich Ostern 1785 die von allen Seiten mit Spannung erwartete, nur 128 Oktavseiten zählende 'Grundlegung zur Metaphysik der Sitten', welche bereits die neue Lehre in allen Grundzügen verkündet.

Umgekehrt wie bei der theoretischen Philosophie, geht also hier die kleinere und populärere Schrift der größeren, systematischen voran. Diese erscheint dann drei Jahre später als Kritik der praktischen Vernunft. Vorübergehend hatte der Philosoph den Hauptinhalt der letzteren bereits in die bevorstehende zweite Auflage der ersten 'Kritik' hineinzuarbeiten beabsichtigt. Allein der Stoff wuchs ihm unter den Händen, zumal da er auch verschiedene gegen die Kr. d. r. V. wie gegen die 'Grundlegung' erhobene Einwände mit berücksichtigen wollte. Die im Juni 1787 schon beinah druckfertige 'Kritik der praktischen Vernunft' erschien zu Ende dieses Jahres mit der Jahreszahl 1788. Sie ist übrigens die am wenigsten umfangreiche der drei 'Kritiken' (weit unter 1/3 der Kr. d. r. V., die Hälfte der Kr. d. Urteilskraft umfassend) geblieben.

Als drittes Werk endlich kommt für unsere Darstellung der erst 1797 veröffentlichte zweite Teil der 'Metaphysik der Sitten', die 'Tugendlehre', in Betracht. Gleichwohl dürfen, ja müssen wir sie hier heranziehen, da sie die Anwendung von Kants ethischen Grundsätzen auf das menschliche Einzelleben *) bringt, übrigens ihrem Stoffe nach sicher größtenteils schon in den Vorlesungen des vorhergehenden Jahrzehnts von Kant vorgetragen worden ist.

 

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*) Kants Rechts- und Staatsphilosophie wird uns erst in Buch IV beschäftigen.


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