Boden der Ethik — Formulierung


Ehe wir jedoch zur Ableitung dieser Formel schreiten, gilt es den Boden zu finden, auf dem sich überhaupt das Gebäude einer Ethik erheben kann. Sittenkunde, als welche sie auch heute noch vielfach verstanden wird, kann und will sie nicht sein; diese hat zwar von jeher unseres Denkers lebhaftestes Interesse erregt, aber sie gilt ihm mit Recht als Anthropologie, d.h. Naturwissenschaft vom geistigen Menschen. Und ebensowenig kann sie sich bescheiden, bloße Psychologie zu sein, welche die seelischen Bedingungen menschlichen Wollens und Handelns zu untersuchen hätte. Wo aber findet sie, wenn anders sie sich nicht an die Erfahrung, an die besonderen Eigenschaften der menschlichen Natur halten will, einen Standpunkt, der "fest sein soll, ungeachtet er weder im Himmel noch auf der Erde an etwas gehängt oder woran gestützt wird?" Man sieht, Kant hat sich, wie immer, die Schwierigkeiten seines Standpunktes nicht verhehlt, vielmehr sie eher noch gesteigert. Die Lösung gibt — das geht auch aus den Reflexionen des Nachlasses in zahlreichen Wendungen unzweideutig hervor — die uns aus dem vorigen Kapitel schon bekannte regulative Idee der Freiheit. Neben dem ehernen Gesetze von Ursache und Wirkung, dem alle Wissenschaft des Seienden ausnahmslos unterworfen bleibt, ist ein anderer Gesichtspunkt denkbar, der nicht die Erklärung der Naturgeschehnisse, sondern ihre Beurteilung als Werte betrifft. Das ist der Standpunkt der Ethik, durch den wir uns selbst in eine ganz neue, nämlich zeitlose "Ordnung der Dinge" versetzen. Wir könnten, um mit Kants eigenen Worten zu reden, "eine so tiefe Einsicht haben, dass wir eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis, ausrechnen könnten — und dennoch dabei behaupten, dass der Mensch frei sei", d. i. dass er sein Handeln nach einer anderen Gesetzmäßigkeit als der "des Zirkels" zu beurteilen vermag. Erklären läßt sich freilich ein solcher Standpunkt nicht weiter — denn erklären läßt sich nur, was sich auf Naturgesetze zurückführen läßt, hier aber hört alle Bestimmung nach Erfahrungsgesetzen auf —, sondern nur noch verteidigen.

Und nun zur Ableitung der "Formel"! Als Grundlage dieser neuen Gesetzmäßigkeit des Sollens können selbstverständlich keinerlei subjektive "Maximen", d. h. bloß von dem Einzelnen für seine Person angenommene Grundsätze, sondern nur "praktische Gesetze", d. i. für den Willen jedes Vernunftwesens gültige Grundsätze in Betracht kommen. Nun sind aber alle "materialen" Prinzipien der Sittlichkeit, die irgendeine "Materie", d. h. einen Gegenstand unseres Begehrens, zum Bestimmungsgrund unseres Wollens machen, der Erfahrung entlehnt, mithin zufällig, also für ein unbedingtes Gesetz, wie es eine wissenschaftliche Ethik fordern muß, unbrauchbar. Und, da sie von der Lust- oder Unlustempfänglichkeit des Einzelnen abhängen, fallen sie sämtlich unter das Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit. Ob dabei das Lustgefühl aus grob-sinnlichen oder geistigen Vorstellungen stammt, ist grundsätzlich einerlei; auch das Gefühl der eigenen Kraft z. B. — man denke etwa an Nietzsche! — macht die Sache nicht besser, ebensowenig die Rücksicht auf unsere zukünftige Seligkeit. Gewiß ist auch nach Kant Glückseligkeit das Verlangen jedes endlichen bedürftigen Wesens, aber sie ist ein ganz relativer Begriff; selbst eine allgemeine Einhelligkeit darüber wäre doch nur — zufällig. Demnach bleibt für ein solches Gesetz als einziger Maßstab übrig: seine Fähigkeit, allgemein gesetzgebend zu sein. Ein Wille, der einzig von dieser bloßen gesetzgebenden Form bestimmt wird, heißt frei. Und umgekehrt: für den freien Willen ist jene gesetzgebende Form der alleinige Bestimmungsgrund. Als das "Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft" oder Sittengesetz ergibt sich mithin, ohne dass wir schon auf den Erfahrungsinhalt Rücksicht zu nehmen brauchten, die Formel: Handle so, dass die Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne!


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