Idee der Menschheit, Autonomie, Persönlichkeit,
Selbstzweck, Würde
Der vielgescholtene "Formalismus" der kritischen Ethik bedeutet indes keineswegs Leerheit des Inhalts, wie ja überhaupt in Kants Philosophie die "Form" keinen Gegensatz zum Inhalt bildet, vielmehr ihn gerade erzeugt.*) In der Vorstellung einer allgemeinen Gesetzgebung liegt vielmehr schon von selbst die Idee der Menschheit, die der Mensch "als das Urbild seiner Handlungen in seiner Seele trägt", und der wir "jederzeit", so lange und so wahr vernünftige Wesen existieren, nachzustreben verpflichtet sind. Da wir ferner in Gemeinschaft mit Millionen anderer Vernunftwesen leben, so entsteht in uns naturgemäß der Gedanke einer systematischen Verbindung dieser vernünftigen Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze zu einem "Reich der Sitten", in welchem ein jedes Glied nicht bloß Untertan, sondern "jederzeit und allgemein" gesetzgebender freier Bürger ist. Und indem ich den "reinen" Willen durch die Vorstellung jener bloßen Form einer allgemeinen Gesetzgebung selbst erst erzeuge, werde ich, wird der Mensch selbst der Schöpfer des Sittengesetzes "vermöge der Autonomie (= Selbstgesetzgebung) seines Willens". Es ist ein "freier Selbstzwang", den er sich auferlegt; daher ist das Joch dieses Gesetzes sanft und seine Last leicht; ja das Gefühl der Freiheit in der Wahl dieses obersten Leitsterns macht das vSittengesetz, weit entfernt davon, ihm einen finsteren, harten Anstrich zu verleihen, sogar "liebenswürdig". Indem sich endlich die Idee der Menschheit auf die eigene Person des Selbst-Gesetzgebers zurückbezieht, wird sie zur Idee der "Menschheit in mir", d. h. der sittlichen Persönlichkeit. Gerade das formale, durch keinen außer ihm liegenden Beweggrund bestimmte Sittengesetz birgt also die reichste Entfaltung in sich: es offenbart dem Menschen am tiefsten sein "eigentliches Selbst", seine "bessere Person", seine Würde, die in der "Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen" besteht.
Alle diese Ideen der allgemeinen Gesetzgebung, des Reichs der Sitten, der Autonomie, der Menschheit, der freien sittlichen Persönlichkeit verschmelzen sich schließlich mit dem Zweckgedanken. Denn nicht das Warum?, sondern das Wozu?, die Ordnung der Zwecke ist das eigentümliche Gebiet unseres Wollens und Handelns. Unterordnung der niederen unter die höheren, der besonderen unter die allgemeineren Zwecke, bis wir zuletzt in endlosem Fortgang zu dem Gedanken eines End- oder Selbstzwecks gelangen, der nicht mehr Mittel zu einem höheren ist. sondern in der Vernunftnatur des Menschen selbst besteht. "In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch und mit ihm jedes vernünftige Wesen ist Zweck an sich selbst." So wird das Reich der Sitten schließlich zu einem "Reich der Zwecke", dessen Gesetze "die Beziehung vernünftiger Wesen aufeinander als Zwecke und Mittel zur Absicht haben". Allerdings ist ein solches Reich "nur ein Ideal", aber doch eine "brauchbare und erlaubte Idee", deren Verwirklichung wir anstreben sollen. Das Sittengesetz aber erhält jetzt die neue, inhaltsvollere Formulierung: "Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst."
Wir haben bisher nur den Gedankengang der reinen Ethik, "welche bloß die notwendigen sittlichen Gesetze eines freien Willens enthält", verfolgt. Indes eine solche hätte keinen Sinn, könnte sie nicht angewandt werden auf den wirklichen Menschen. Indem sich nun das Sittengesetz an diesen "empirischen" Menschen mit allen seinen widerstrebenden Neigungen und Gefühlen wendet, kleidet es sich von selbst in die Befehlsform (Imperativ), und zwar im Unterschied von den bedingten ("hypothetischen") Imperativen, die nur "Vorschriften der Klugheit" zur Erreichung bestimmter Einzelzwecke sind, in die Form eines unbedingten ("kategorischen") Gebots, das unmittelbar gebietet, weil es auf den unbedingten Zweck des Sittengesetzes geht. In uns Menschenwesen, bei denen jedes Wollen mit einem Gefühl, sei es der Lust oder der Unlust, verbunden ist, ruft der kategorische Imperativ des Sittengesetzes das aus Lust und Unlust merkwürdig gemischte Gefühl der Achtung hervor: der sinnliche Mensch in uns fühlt sich im Bewußtsein seiner Unangemessenheit im Vergleich mit der Idee gedemütigt; der moralische dagegen erhoben, ja hingerissen in dem Gefühl, selber der Schöpfer eines solchen Gesetzes seiner eigenen Vernunft zu sein, in der Empfindung jenes unerklärbaren Etwas in uns, "das sich getrauen darf, mit allen Kräften der Natur in dir und um dich in Kampf zu treten und sie, wenn sie mit deinen sittlichen Grundsätzen in Streit kommen, zu besiegen". Er fühlt die Erhabenheit seiner Bestimmung, seinen inneren, über allen "Marktpreis" hoch erhabenen Wert, seine Würde.
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*) Vgl. meine Doktor-Dissertation: 'Der Formalismus der Kantischen Ethik in seiner Notwendigkeit und Fruchtbarkeit.' Marburg 1893.