4. Was ist Aufklärung?


Aber Kants geschichtsphilosophisches Interesse ist nicht bloß dem Woher?, sondern auch dem Wozu?, nicht nur den Anfängen, sondern auch den Zielen der Menschheitsentwicklung zugewandt. Daher sein immer stärker werdendes politisches Interesse, das freilich erst zur Zeit der großen Revolution seinen Höhepunkt erreichte und darum erst im letzten Buch ausführlicher behandelt werden soll. Zur philosophischen Beleuchtung seiner Zeit jedoch dringt er schon gegen die Mitte der 80er Jahre vor.

Es empfanden damals weite Kreise der Gebildeten das Bedürfnis, sich über das geistige Fazit der Gegenwart klar zu werden. Wir wissen nicht, wer den Namen Aufklärung zuerst gebraucht hat. Aber im Septemberheft der Berliner Monatsschrift 1784 warf der Hauptwortführer der vorkantischen Philosophie in Deutschland, Moses Mendelssohn, die Frage auf: 'Was heißt Aufklären?' Seine Antwort lautete im wesentlichen: "theoretische Bildung", neben und gegenüber der "Kultur" als praktischer. Ohne von Mendelssohns Aufsatz zu wissen — sonst wäre er, wie er bescheiden erklärt, von seinem Vorsatze abgestanden —, schickte nun Kant derselben Zeitschrift eine kurze Abhandlung über die nämliche Frage ein. Wenn gefragt werde: "Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter?", so müsse die Antwort lauten: "Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung." Was aber heißt Aufklärung?

Gleich in den ersten markigen Sätzen der kleinen Schrift zeigt sich der Unterschied von Mendelssohns weicherer Art, indem der Nachdruck nicht auf die Verstandes- oder gar Gefühls-, sondern auf die Willensseite gelegt wird. "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit." Faulheit und Feigheit, Mangel an Entschlußkraft sind die Ursachen, die den größten Teil der Menschheit zeitlebens und sogar "gern" in geistiger Unmündigkeit verbleiben lassen. "Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!" lautet dagegen der Wahlspruch der Aufklärung.

Doch die Befreiung aus jenem schmachvollen Zustand ist nicht so leicht, wie manche es sich denken. Nicht bloß ist Selbstdenken den meisten unbequem und beschwerlich, sondern unberufene Vormünder haben auch dafür gesorgt, dass der bei weitem größte Teil der Menschen, darunter "das ganze schöne Geschlecht", den Schritt zur Mündigkeit für — sehr gefährlich hält. Einen entschiedenen Fortschritt erwartet der Philosoph — fünf Jahre vor 1789! — nicht von einer gewaltsamen Revolution, die für den gedankenlosen großen Haufen bloß neue Vorurteile statt der alten schaffen würde, sondern allein von der "Freiheit, von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen".

Vor allem im "Hauptpunkte" der Aufklärung: "in Religionssachen", da die Unmündigkeit auf diesem Gebiete am schädlichsten und auch am entehrendsten ist. Als "Geschäftsträger" seiner Kirche und Angestellter seiner Gemeinde ist allerdings der Geistliche die offizielle kirchliche Lehre vorzutragen verpflichtet; wenn auch nur in der Form, dass er sagt: Unsere Kirche lehrt dieses oder jenes, bedient sich der und der Beweisgründe, und so dann daraus zieht, was er für praktisch nützlich hält. Übrigens nur, solange er darin nichts "der inneren Religion Widersprechendes" antrifft; in welchem Falle er sein Amt niederlegen müßte. Dagegen muß er als theologischer Gelehrter volle Freiheit haben zu schreiben, was er will. Auch darf er durch keine Kirchenversammlung oder Synode eidlich auf ein unveränderliches Symbol verpflichtet werden. Ein solcher Vertrag, der alle weitere Aufklärung verhindern würde, ist "schlechterdings null und nichtig", ja, sollte er auch durch Reichstage und feierliche Friedensschlüsse bestätigt sein, ein "Verbrechen wider die menschliche Natur". Denn auf die Aufklärung sogar für die Nachkommenschaft Verzicht tun, hieße "die heiügen Rechte der Menschheit verletzen und mit Füßen treten".

Nicht so stark ereifert er sich hier noch für die politische Freiheit. Zwar stellt er als Maßstab aller Gesetze auf, dass "das Volk selbst sich ein solches Gesetz auferlegen könnte". Aber er wendet diesen "Probierstein" nur so weit an, dass er bloß das Recht einer freimütigen Kritik verlangt. Er hat bei seiner ganzen Erörterung offenbar den Staat Friedrichs II. im Auge, der nur deshalb jeden nach seiner "Fasson" selig werden ließ, weil ihm diese Dinge höchst gleichgültig waren, solange er politisch unbedingten Gehorsam fand; wie ihn denn auch Kant zweimal mit denselben Worten sagen läßt: "Räsonniert [d. h. kritisiert], soviel Ihr wollt und worüber Ihr wollt, aber gehorcht!" Stolz auf solchen König nennt er das "Zeitalter der Aufklärung" das "Jahrhundert Friedrichs", der zuerst seinen Untertanen, sogar seinen Beamten, volle Freiheit in Religionssachen gelassen und so auch anderen Staaten durch sein Beispiel gezeigt habe, dass für die Ruhe und Einigkeit des Gemeinwesens von solcher Freiheit nicht das Mindeste zu besorgen sei, freilich als "Bürgen der öffentlichen Ruhe" zugleich auch ein — wohl diszipliniertes zahlreiches Heer zur Hand habe. Dass Kants eigene Gedanken weiter gingen, zeigt der Schlußsatz: Die gewährte Denkfreiheit werde das Volk allmählich auch freier im Handeln machen und schließlich auch die Regierung davon überzeugen, dass es ihr selbst nur zuträglich ist, "den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln".


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