Stellung zur Naturwissenschaft überhaupt
Denn was wir soeben von seinem Verhältnis zur Chemie sahen, gilt für seine Stellung zur Naturwissenschaft überhaupt. Er war kein Naturforscher im heutigen Sinne. Wohl hat er sich, infolge der Vielseitigkeit seines Geistes und auf Grund seiner riesigen Belesenheit, auch auf diesem Felde ausgedehnte Einzelkenntnisse erworben, hat, solange es ihm seine Geisteskräfte gestatteten, mit Aufmerksamkeit alle Neuentdeckungen verfolgt, sich mit den wichtigsten Theorien vertraut gemacht; und den Hauptgegenstand der Unterhaltung bei seinen noch zu erwähnenden Tischgesellschaften (Buch IV, Kap. 7) bildeten, abgesehen von der Politik, Probleme oder interessante Fälle aus der Meteorologie, Physik, Chemie und Naturgeschichte. Was dagegen bei ihm gänzlich fehlt, ist das dem wirklichen Naturforscher doch auch schon damals unentbehrliche Experiment. Das einzige der Art, wovon wir wissen, ist die fleißige Beobachtung der — in seinem Studierzimmer angebrachten Thermo- und Barometer. Von eigenen anatomischen, botanischen, geologischen, chemischen oder mineralogischen Versuchen dagegen, wie sie andere große Dilettanten, z. B. Goethe, eifrig betrieben haben, hören wir nichts. Eine Ursache mag ja seine, bei reinen Kopfarbeitern so häufige, manuelle Ungeschicklichkeit gewesen sein: "so geschickt zu Kopf-, so unbeholfen in Handarbeiten" nennt ihn Wasianski. So vermochte er auch nicht die von ihm selbst erdachten Instrumente zu konstruieren oder Experimente selbst auszuführen: so dass er dann, da auch seines Dieners Lampe plumpe Hände versagten, geschicktere Freunde wie Wasianski zu Hilfe rufen mußte. Überdies zeigte sich in dem von letzterem berichteten einzigen Falle, der Konstruktion eines Luftelastizitäts-Messers, das nach Kants Angaben verfertigte Instrument zur Betrübnis des Philosophen nicht leistungsfähig. Aber wir können außer einem Falle zu Anfang der 60er Jahre, wo er der Operation eines Blindgeborenen beiwohnte, auch nicht einmal konstatieren, dass er von anderen angestellten praktischen Versuchen zugesehen hat.
Trotz alledem hat er auf den verschiedensten Gebieten der Naturwissenschaft — der anorganischen wie der organischen — nachhaltige Wirkungen hinterlassen. Wir erinnern an seine große Weltentstehungs-Hypothese (Buch II, Kap. 1). Wichtiger aber für die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft haben sich seine grundlegenden methodischen Anschauungen erwiesen. Nur auf Grund derjenigen "Erklärungsart", die Kant als das Erfordernis strenger Naturwissenschaft ansieht, der mathematisch-mechanischen, hat sich seitdem die chemische Wissenschaft zu ihrer heutigen Höhe erhoben. Eben die von dem kritischen Philosophen als Voraussetzung geforderte atomistische Hypothese, d. i. die Annahme einer stetig fortgesetzten Teilung der Materie bis herab zu den kleinsten Teilchen, die man sich in gesonderter Existenz vorstellen kann, ist die Grundlage unserer heutigen chemischen Elemente, Atome und Moleküle geworden; womit dann zugleich die Möglichkeit aller denkbaren Kombinationen derselben bis ins Unendliche gegeben ist.
Für die Wissenschaften vom Lebenden aber: Botanik, Zoologie und Anatomie, sei nochmals auf seine grundlegende Definition des Organismus ("organisierten Wesens") hingewiesen; für sie und die Mineralogie dazu auf jene drei "regulative Prinzipien" oder Leitgedanken der Gleichartigkeit, der Besonderheit und des stetigen Übergangs. Ohne sie, ohne die aus ihnen unmittelbar folgende Gliederung in Gattungen und Arten ist ein wissenschaftliches Begreifen, ja eine bloße Orientierung in dem un-ermeßlichen Formenreichtum der Natur undenkbar; sie bilden für den Forscher die Grundvoraussetzung aller wissenschaftlichen Untersuchung, machen eine "systematische" Pflanzen-, Tier- und Gesteinslehre überhaupt erst möglich. Und sie lehren ihn dann weiter, in der Natur nach Gründen und Gesetzen von Formenverwandtschaft und Formenverschiedenheit zu suchen und so immer neue Ergebnisse zu finden. So bewähren sie sich im eigentlichsten Sinne als "heuristische" Maximen, als "leitende" Ideen.