5. Das Verhältnis von Schiller, Goethe und Herder
zu Kants Ästhetik
Damit aber ist er, ist insbesondere seine Ästhetik, trotz der Mängel seiner persönlichen praktischen Kunstanschauung, die theoretische Lehrerin unserer beiden großen schaffenden Künstler, Schillers und durch ihn Goethes, geworden. Denn in ihnen, nicht in den unselbständigen Köpfen, die in breiten Kommentaren oder trockenen Kompendien die Hauptgedanken seiner dritten 'Kritik' wiederkäuten oder auch verflachten, sind die wahren Jünger der Kantischen Ästhetik zu erblicken.*)
Wenn Schillers Freiheitsnatur schon der von ihm als theoretischer Kern der kritischen Philosophie bezeichnete Gedanke: "Die Natur steht unter dem Verstandesgesetze", und noch mehr, als Grundgedanke der praktischen, das: 'Bestimme Dich aus Dir selbst!' sympathisch war, so lag ihm, als.Dichter, begreiflicherweise doch noch mehr die kritische Ästhetik am Herzen. Die Kritik der Urteilskraft war es, die ihn durch ihren "neuen, lichtvollen, geistreichen Inhalt hinriß" und ihm das "größte Verlangen" beibrachte, "mich nach und nach in seine Philosophie hineinzuarbeiten" (an Körner, 3. März 1791). Noch anderthalb Jahre später steckt er "bis an die Ohren in Kants Urteilskraft" und will "nicht ruhen, bis ich diese Materie durchdrungen habe, und sie unter meinen Händen etwas geworden ist" (an dens., 15. Okt. 1792). Dass etwas daraus geworden ist, bezeugt die lange Reihe seiner ästhetischen Abhandlungen. Sie alle ruhen auf dem Grunde von Kants Ästhetik. Auch für Schiller bedeutet das Künstlerische eine neue, eigene Welt neben der des Erkennens und des sittlichen Wollens, aus dem freien Spiele beider im menschlichen Bewußtsein entspringend. Er bildet nur Kants Gedanken aus seiner eigenen Denkweise heraus weiter. Der physische Zustand des Menschen, in dem er die Macht der Natur erleidet, und der moralische, in dem er ihr überlegen ist, werden nach Schiller zur Versöhnung und Harmonie gebracht durch das ästhetische Gefühl: "der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt". Auch das Schöne ist ein Imperativ, das heißt im Menschen erst zu schaffen. Deshalb ist ästhetische Erziehung des Einzelnen wie der Gesamtheit vonnöten. Denn das Ideal der Menschheit vollendet sich erst in der Schönheit.
Schiller vor allem hat — nicht bloß in seinen Abhandlungen, sondern auch in seiner Gedankendichtung — des Meisters Anschauungen, wenn auch als durchaus selbständiger Jünger, weiten Kreisen des deutschen Volkes vermittelt. Durch ihn ist auch sein großer Freund für die großen Grundgedanken der Kantischen Ästhetik gewonnen worden. Hatte sich Goethe schon vorher durch die Kritik der Urteilskraft lebhaft angeregt gefühlt, so wuchs er doch jetzt erst nach seinem eigenen Bekenntnis "ganz mit ihr zusammen", soweit seine "anschauende" Künstlernatur dem Zergliedern, Trennen und Abstrahieren, das der Philosoph notwendig betreiben muß, sich überhaupt zu eigen geben konnte.
Der Denker dagegen, unter dessen Einfluß Goethe bis etwa zu seiner Lebensmitte in philosophischen Dingen gestanden hatte, Johann Gottfried Herder, blieb, durch persönliche Gegensätze noch mehr gereizt, in einsamer Verbitterung beiseite, ja mehr als das: er griff noch in seinen letzten Lebensjahren in seiner 'Kalligone' (1800) voll giftiger Wut die ästhetischen Grundsätze des einst so verehrten Lehrers an, indem er, am Buchstaben klebend, gerade diejenigen Gedanken Kants bestritt, denen er als Dichter am begeistertsten hätte zustimmen müssen: das interesselose Wohlgefallen, die "tote" Form "ohne Inhalt", die Empfindung ohne Begriffe, die "Zweckmäßigkeit ohne Zweck", die "Überschätzung" des Genies und anderes mehr. Den Spuren Herders folgten dann die Romantiker, die dichterischen nicht bloß, sondern auch die philosophischen, wenn sie auch, von Schopenhauer abgesehen, die kritische Ästhetik mehr ignoriert als bekämpft haben. Erst in unseren Tagen hat man einzusehen begonnen, dass der Königsberger Weise über den vermeintlichen Gegensatz von "Form"- und "Inhalts"-Ästhetik erhaben ist, er, wie dessen ganzer Philosophie die Form ja nicht den Gegensatz zum Inhalt bedeutet, sondern den letzteren erst erzeugt,**) dass er vielmehr auch auf dem Gebiete der Philosophie der Kunst den festen Grund gelegt hat, auf dem die heutige Ästhetik weiter bauen kann: ganz abgesehen von den zahlreichen geistvollen Einzelgedanken und Winken über Kunst, von denen der Leser einen Teil in diesem Kapitel kennen gelernt hat.
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*) Wir haben das in unserem 'Kant — Schiller — Goethe' (Leipzig 1907, 2. Aufl. 1923) in eingehender Darstellung nachgewiesen und geben im folgenden nur einige Hauptergebnisse.
**) Ich habe das in meiner ersten größeren Arbeit nachzuweisen gesucht: K. Vorländer, Der Formalismus der Kantischen Ethik in seiner Notwendigkeit und Fruchtbarkeit. Marburger Diss. 1893.