2. Auseinandersetzung mit Herder


Eben in diesem Streben nach reinlicher Scheidung zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen naturwissenschaftlicher und sittlich-religiöser Betrachtungsweise mußte er sich nun durch ein gerade damals (1784), im gleichen Verlage wie seine Kritik, erschienenes, Aufsehen erregendes Werk gestört fühlen: durch Herders 'Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit'. Wir haben zu Ende des zweiten Buches gesehen, wie der ehemalige Schüler von dem einst bewunderten Lehrer sich innerlich gelöst hatte. Seitdem hatte sich der Gegensatz noch vertieft. Herder, der in der Kritik der reinen Vernunft nichts als Formalismus und "leeren Wortkram" sah, eiferte den Freund Hamann zu einer Gegenschrift ('Metakritik') wider deren "Purismum" an, die freilich nicht zustande kam.*) In der Tat konnte Männern wie Hamann und Herder, die darin "ganz einig" waren, "dass unsere ganze Vernunft und Philosophie auf Tradition und Überlieferung hinauslaufe" (Hamann an Jacobi, 29. Okt. 85), der Kritizismus mit seinem vermeintlichen Bestreben, die abstrakte Vernunft von aller Erfahrung und sinnlichen Anschauung loszulösen, nur als ein ungeheurer Irrweg erscheinen. Wie mußte anderseits dem klare und bestimmte Begriffe über alles schätzenden Philosophen zumute werden, wenn er in der halbdichterischen Prosa des einstigen Schülers die Natur mit Gott gleichgesetzt, unbestimmte "organische Kräfte" als Grundbegriffe verwandt, sinnreiche Analogien als Beweismittel gebraucht sah! Herders entwicklungsgeschichtlicher Standpunkt hätte an sich sehr fruchtbar wirken können, wenn die "Reihe" seiner "aufsteigenden Formen und Kräfte" nach streng naturwissenschaftlicher Methode bewiesen und entwickelt worden wäre. Statt dessen bekommen wir jedoch meist nur schöne Bilder vorgesetzt; wie etwa als "einzige Philosophie der Menschengeschichte" den unklaren Satz; "Der jetzige Zustand der Menschen ist wahrscheinlich (!) das verbindende Mittelglied zweener Welten" (5. Buch, 6. Abschn.), oder als Ergebnis des ganzen ersten Teils den noch verschwommeneren: "Wie die Blume an der Grenze der unbelebten Schöpfung, so stehe der Mensch mit erhobenem Blick und aufgehobenen Händen da, als ein Sohn des Hauses den Ruf seines Vaters erwartend." Mag Herder auch religiös noch so vorurteilslos zu sein sich bemühen ("der Menschen ältere Brüder sind die Tiere"), so sind doch solche Sätze nur Rhetorik, nur Predigt eines, wenn auch gedankenreichen und freigesinnten Theologen. In der Tat gesteht er denn auch seinem Hamann, die naturwissenschaftliche Seite sei für ihn bloßes "Beiwerk", "Eingehen auf den Modeton des Jahrhunderts".

Mußte also Kant seine ganze natur- und geschichtsphilosophische, streng "durchgedachte" Auffassung durch den Einfluß des geistvollen und stilgewandten Weimarer General-Superintendenten gefährdet sehen, so konnte ihm Schützens Bitte, den eben erschienenen ersten Teil der 'Ideen' für die neubegründete 'Literaturzeitung' zu besprechen, nur gelegen kommen. Die "Sozietät der Unternehmer" triumphierte ihrerseits, dass sie den berühmten Denker zum Mitarbeiter gewonnen, und wies Kants Verzicht auf das Honorar, falls die Rezension "nicht genehm" sein sollte, entrüstet ab: "mir brachen die Tränen unfreiwillig aus", schreibt der gefühlvolle Schütz. So erschien die — wohl auf Kants Wunsch anonyme — ausführliche Besprechung gleich in den ersten Nummern der neuen Zeitschrift.

Sie suchte, wie es Pflicht eines gerechten Kritikers ist, sich in den Gedankengang des Autors hineinzuversetzen und dem Leser durch zahlreiche Zitate (die beinahe zwei Drittel des Ganzen ausmachen) ein objektives Bild derselben zu geben. Auch ließ Kant den schriftstellerischen Vorzügen des früheren Schülers, dessen Autorlaufbahn er ja mit aufmerksamem Auge verfolgt hatte, volle Anerkennung widerfahren. Er rühmte den "vielumfassenden Blick" des "sinnreichen und beredten" Verfassers, seine "Sagazität" im Aufspüren von Analogien, seine "kühne Einbildungskraft", seinen "fruchtbaren Kopf", seine Freiheit im Denken, ganz abgesehen von "manchen ebenso schön gesagten oder edel und wahr gedachten Reflexionen". Dagegen vermißte er in Herders "spezifischer Denkungsart" mit Recht die "logische Pünktlichkeit in Bestimmung der Begriffe". Statt ihrer nähmen Gefühle und Empfindungen, "vielbedeutende Winke" statt kalter Beurteilung, den Leser in geschickter Weise für den "immer in dunkler Ferne gehaltenen" Gegenstand ein. Er suchte Dinge, die man nicht begreift, aus unbestimmten, unsichtbaren Kräften, die man noch weniger begreift, zu erklären; das aber sei Metaphysik, die Herder doch im Einklange mit der Zeitmode von sich ablehne, und zwar "sehr dogmatische". So spricht er denn zum Schluß den Wunsch aus, dass "unser geistvoller Verfasser" bei der Fortsetzung seines Werks seinem lebhaften Genie einigen Zwang auflege, dass er nicht mehr durch Winke und Mutmaßungen, sondern durch bestimmte Begriffe und wirklich beobachtete Gesetze auf den Leser zu wirken suche, dass er seine Einbildungskraft nicht durch Metaphysik oder bloße Gefühle "beflügeln" lasse, sondern dass Philosophie, "deren Besorgung mehr im Beschneiden als Treiben üppiger Schößlinge besteht", ihn durch eine "im Entwurf ausgebreitete, aber in der Ausführung behutsame" Vernunft zur Vollendung seines Unternehmens leiten möge.

Wir haben absichtlich Kants Charakteristik des Gegners so ausführlich mit seinen eigenen Worten gebracht, weil sie den Gegensatz beider Naturen ins hellste Licht stellen. Herder hatte sein gesamtes Fühlen und Denken, sein ganzes Ich in den 'Ideen' niedergelegt. Um so mehr fühlte er sich durch die überlegene Kritik des einstigen Lehrers im Innersten getroffen. In solchen Fällen wirkt ein eingestreutes laues Lob, zumal wenn es in so belehrendem Ton wie Kants Schlußermahnung vorgetragen wird, nur noch aufreizender. So fand er denn dessen Verfahren platt und hämisch, schief und "umkehrend", ja selbst in Kants ehrlich gemeinter Anerkennung seiner für einen Theologen großen Vorurteilslosigkeit nur Spott. Und gegenüber jener Schlußbelehrung schrieb er seinen Freunden wutentbrannt: "Ich bin vierzig Jahre alt und sitze nicht mehr auf seinen metaphysischen Schulbänken."

Die meisten Freunde gossen mit ihrer begeisterten Zustimmung nur Öl ins Feuer. Auf uns wirkt es heute sehr komisch, wenn Herr von Knebel in Weimar in dem Anonymus "so einen illustren Dummkopf, der die Weisheit nach Maß und Elle zuschneidet", einen "gelehrten Esel", eine "lichtscheue Fledermaus" vermutet, der es wehe tue, wenn sie sich nicht "wie der große Vogel des Tages erheben kann!" Wichtiger war die Zustimmung Goethes, der nicht bloß die ersten Kapitel "köstlich" fand, sondern auch zu dem ganzen zweiten Teil "Ja und Amen" sagte, wie er die 'Ideen' noch 1787 sein "liebstes Evangelium" nennt. Bezeichnend aber ist doch, dass der einzige von Herders Intimen, der zugleich den Königsberger Philosophen persönlich kannte, der sachlich ganz auf Herders Seite stehende Hamann den Kritiker in Schutz nahm. "Kant ist von seinem System zu voll, um Sie unparteiisch beurteilen zu können" (an Herder, 6. Febr. 85). Und später: "Kant ist wirklich ein dienstfertiger, uneigennütziger und im Grunde gut und edel gesinnter Mann von Talenten und Verdiensten. In Ihren Ideen sind manche Stellen, die auf ihn und sein System wie Pfeile gerichtet zu sein scheinen, ohne dass Sie an ihn gedacht haben mögen" (desgl., 8. Mai 85).

Im Februarheft von Wielands 'Teutschem Merkur' trat unter der Maske eines Pfarrers ein ebenfalls ungenannter Kämpe für Herder in die Schranken, über den er bereits vorher in demselben Merkur "eine greuliche Posaune angestimmt hatte" (Schütz an Kant, 18. Febr. 85). Es war der Ex-Barnabit Reinhold, der damals im Hause seines zukünftigen Schwiegervaters Wieland lebte. Kant fertigte den "Pfarrer" alsbald in einem Anhang zum Märzheft der Literaturzeitung ab. Es war ihm leicht, den Vorwurf zurückzuweisen, als sei er ein "orthodoxer Metaphysiker", der "für alle Belehrung durch die Erfahrung gänzlich verdorben" sei und alles seinem "Leisten scholastischer, unfruchtbarer Abstraktionen" anpassen wolle. Freilich suche er die Philosophie der Geschichte "weder in der Metaphysik noch im Naturalienkabinett durch Vergleichung des Skeletts des Menschen mit dem von anderen Tiergattungen" und "am wenigsten" in seiner Bestimmung für eine andere Welt, sondern in seinen Handlungen. Reinhold wagte sich nach der scharfen Abfuhr, die er erhielt, nicht wieder hervor und hat sich bald darauf in einen glühenden Bewunderer des kritischen Philosophen verwandelt.

Herder selbst richtete im zweiten, Herbst 1785 erschienenen Teile seiner 'Ideen' an verschiedenen Stellen, ohne ihn zu nennen, neue Angriffe gegen Kant. Drei Gedanken in dessen 'Idee zu einer allgemeinen Geschichte' erregten vor allem seinen Widerspruch. Seiner mehr frauenhaft-rezeptiven als männlich-schöpferischen Natur ging erstens gegen den Strich, dass nach Kant der Mensch alles aus sich selbst hervorbringen solle; zweitens der angebliche Gedanke, dass "nicht der einzelne Mensch, sondern das Geschlecht erzogen werde"; und drittens widersprach seiner rein individualistischen Persönlichkeit Kants strenger Staatsbegriff, während er selbst kein anderes politisches Prinzip will, als dass im Staat "jeder das sei, wozu ihn die Natur (?) bestellte". Dem, aus seinem Zusammenhang gerissen, allerdings sehr schroff klingenden Satz Kants, der Mensch sei ein Tier, das einen Herrn nötig habe, hielt er pathetisch entgegen: der Mensch bedürfe eines solchen Despoten nicht, er solle nicht ewig unmündig bleiben. Das glaubte er dem Manne sagen zu müssen, der eben erst die "Aufklärung" als den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit in einer besonderen Schrift gefordert hatte.

Obwohl Kant im Sommer 1785 durch schriftstellerische Arbeiten stark in Anspruch genommen war und außerdem gerade jetzt die herannahenden Beschwerden des Alters deutlicher zu spüren begann, so dass er die Notwendigkeit, "seine Gedanken ununterbrochen zusammenzuhalten" empfand (an Schütz, 13. Sept. 1785), glaubte er doch diesen Angriffen entgegentreten zu müssen. Er übernahm deshalb auch die Besprechung des zweiten Teils der 'Ideen' und stellte sie sogar (er lieh sich zu diesem Zwecke Hamanns Exemplar) so rasch fertig, dass sie bereits am 15. Nov. erschien. Auch diesmal ging er ausführlich auf den Inhalt ein, lobte auch wieder die geschickte Auswahl und meisterhafte Gliederung des Stoffs, die zahlreichen sinnreichen Urteile und die mancherlei Stellen voll dichterischer Beredtsamkeit. Nur habe dieser poetische Geist die Grenzen zwischen Dichtung und Philosophie zuweilen "völlig verrückt". Herders kühne Metaphern, poetische Allegorien und mythologische Anspielungen verhüllten oft — gleich dem Reifrock einer Schönen — den Gedanken mehr, als dass sie ihn durchschimmern ließen. Der Satz von dem "nötigen Herrn" sei durch die Erfahrung aller Zeiten und Völker bestätigt. Die Glückseligkeit des Einzelnen, die Herder den "kostbaren Staatsmaschinen" vorzuziehen erklärte, sei ein bloßes Schattenbild, das jeder sich selbst mache; die Glückseligkeit des bloßen Genusses der Bewohner von Otaheite (Tahiti) unterscheide sich grundsätzlich nicht von dem Glücke der Rinder und Schafe. Die wahrhaft menschlichen Strebens würdigen Ziele seien vielmehr wachsende Kultur und — so schreibt unser Philosoph schon vor 1789 — "eine nach Begriffen des Menschenrechts geordnete Staatsverfassung". Die Herder so unverständliche "Menschengattung" bedeute das Ganze einer unendlichen Reihe von Generationen, die in unaufhörlichem Fortschreiten begriffen sind. Wenn sein Gegner solche Philosophie als scholastisch ("averroisch") ablehne, so solle er selber endlich einmal nicht in bloßen Worten, sondern "durch Tat und Beispiel" der Welt ein Muster der echten Art zu philosophieren vorlegen.

Die bei aller Entschiedenheit ruhige, gelassene und ironisch überlegene Art von Kants Erwiderung steigerte — psychologisch sehr begreiflich — die Erbitterung Herders nur noch mehr, so dass selbst Hamanns vernünftiges Zureden nicht verfing. "Ei, ei!", schrieb ihm dieser am 19. Januar 1786 in seiner drastischen Art, "mein lieber Gevatter, Landsmann und Freund, dass Ihnen die Schläge Ihres alten Lehrers so weh tun, gefällt mir nicht recht. ... Jeder gute Kopf hat so einen Satansengel nötig, statt eines memento mori — und die bittere Aloe macht rote Wangen, befördert den Umlauf des Blutes und den Fortgang der Arbeit, besonders so lange diese noch unter dem Amboß ist. Das dient im Grunde alles zu Ihrem und des Werkes Bestem, wenn Sie es gut anwenden wollen — et ab hoste consilium. Und das [sc. ein Feind] ist Kant nicht, sondern im Grunde ein guter homunculus. Sind seine Erinnerungen ohne Grund, so fallen sie von selbst weg. Haben sie Grund, desto besser für Sie, ihn noch beizeiten zu entdecken und sich danach richten zu können.**)"

Herder befolgte jedoch diese wohlmeinenden Ratschläge nicht, sondern blieb bis an sein Lebensende bei seiner Verständnislosigkeit und Abneigung gegen die kritische Philosophie. Kant anderseits hatte nunmehr wichtigere Aufgaben zu erfüllen. Den 1787 veröffentlichten dritten Teil der 'Ideen' gleichfalls zu rezensieren, lehnte er ab, weil er seine Kritik der Urteilskraft in Angriff nahm. Dagegen hatte ihn die Beschäftigung mit den Herderschen Gedankengängen noch vor Ende 1785 zu einer kleinen Zwischenarbeit angeregt, die er ebenfalls in der Berliner Monatsschrift veröffentlichte, unter dem Titel: 3. Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte.

 

__________________

*) Nach einer Mitteilung Carolinens an Herder (Herders S. W., Cotta 1830, III, 123) hatte allerdings Herder dem ihn 1783 in Weimar besuchenden Hartknoch auf dessen vertrauliche Mitteilung, Kant führe die Nichtbeachtung seiner Kritik auf Herders Einfluß zurück, erwidert: Kants Werk sei ihm zwar ungenießbar und seine Vorstellungsart zuwider, gleichwohl habe er gegen sie weder geschrieben noch etwas veranlaßt! 

**) In Königsberg hatte Herder außer Hamann kaum Freunde. So schreibt z. B. Kants Kollege Kraus, der doch Hamann als Lehrer und Freund achtete, über die 'Ideen' am 27. Dezember 1787 an Schütz: "Es gilt, die in so vielen, zumal jungen, Köpfen herrschende pantheistische Schwärmerei und den ästhetisch-metaphysischen Bombast, womit Herder sein Publikum als kluger Schalk wissentlich narrt ..., darzustellen. So viel muß ich Ihnen gestehen, keiner von den jetzigen berühmten Schriftstellern ist mir unausstehlicher als er."


 © textlog.de 2004 • 23.11.2024 10:43:42 •
Seite zuletzt aktualisiert: 03.01.2007 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright