Erstes Kapitel
Der Kritiker der Erkenntnis
1. Die kritischen Grundmotive
Philosophie als Wissenschaft
Es kann uns nicht in den Sinn kommen, im folgenden unseren Lesern etwa den gesamten Gedankengang des kritischen Hauptwerkes oder gar den Gesamtbau des Systems in knapper Form vor Augen zu führen. Das ist in unzähligen Darstellungen geschehen; auch wir selbst haben es an anderem Orte versucht.*) Sondern wir wollen hier nur die Grundmotive, die unseren Kritiker der reinen Vernunft bewegen, in großen Zügen darzulegen suchen. Wir stützen uns dabei vorzugsweise auf seine eigene Erläuterungsschrift, die 'Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können' (1783), in zweiter Linie auf die Vorrede zur zweiten Auflage der 'Kritik' (1787): deshalb, weil er in beiden das eigene Werk schon in einiger Entfernung von sich sieht, daher besser "das Ganze zu übersehen", die "Hauptpunkte, worauf ... es ankommt", zu bezeichnen und "manches dem Vortrage nach besser" als bei "der ersten Ausfertigung des Werkes einzurichten" vermochte (Proleg., Ausgabe Vorländer, S. 11).
Zunächst: Kant ist sich bewußt, mit seinem Werke etwas völlig Neues zu geben, wovon "niemand auch nur den Gedanken vorher gefaßt hatte" (ebd. S. 9), das mithin nicht einfach in irgendeiner der beliebten philosophiegeschichtlichen Rubriken unterzubringen ist: wie es auch heute noch "Gelehrte, denen die Geschichte der Philosophie selbst ihre Philosophie ist", gar zu gerne tun, indem sie Kants Philosophie aus einer Anzahl von —ismen, von jedem eine Dosis, zusammensetzen. Solchen Leuten hat schon Kant verächtlich zugerufen: sie "müssen warten", warten, bis "diejenigen, die aus den Quellen der Vernunft selbst zu schöpfen bemüht sind, ihre Sache werden ausgemacht haben"; dann wird auch an sie die Reihe kommen, der Welt Nachricht davon zu geben. Kant fordert vielmehr als Voraussetzung für das Verständnis seiner Lehre eine vorherige vollkommene "Revolution der Denkungsart": eine Wendung, die er, geringe Modifikationen ("Umschaffung", "Änderung" statt "Revolution") mit eingerechnet, in der Vorrede zur zweiten Auflage auf wenigen Seiten nicht weniger als 14mal gebraucht. Diese "Umschaffung" seiner bisherigen Denkweise hat zunächst der naive Mensch mit sich selbst vorzunehmen, indem er jenen Kopernikus-Gedanken, durch den das "bewundernswürdige Volk der Griechen" die Mathematik, mit dem Galilei und seine Nachfolger die moderne Physik begründet, auch auf die Philosophie anwendet: dass der Gegenstand sich nach unserer Erkenntnis richtet, nicht unsere Erkenntnis nach den Gegenständen; mit anderen Worten: dass Wissenschaft durch die Begriffe entsteht, die wir selbst in die Dinge hineindenken.
Philosophiegeschichtlich betrachtet ist das Ancien regime, das durch die Kantische "Revolution" abgelöst werden soll, die gesamte bisherige, d. h. die Schulmetaphysik. Nicht als ob er die Metaphysik überhaupt verbannen wollte. Sie ist dem Menschen vielmehr so natürlich wie das Atemholen, mit seinen Vernunftinteressen aufs innigste verflochten. Aber was die Metaphysik — Kants eigene frühere Versuche mit eingeschlossen — bisher geleistet hat, mag zwar "die Leser gut unterhalten, auch wohl zur Kultur der Gemütskräfte" beigetragen haben, hat jedoch die Philosophie um keinen Schritt weiter gebracht, vielmehr manchen guten Kopf verdorben. Sie, einst die "Königin der Wissenschaften", hat denn nachgerade auch allen Kredit verloren; es gilt beinahe schon als Beleidigung, ein großer Metaphysiker zu heißen. Zur alten Metaphysik verhält sich die neue Philosophie wie die Chemie zur Alchemie, die astronomische Wissenschaft zur astrologischen Sterndeuterei. Alle Metaphysiker der alten Art — selbst einen Leibniz zählt er dazu, den er noch nicht so vollständig kannte, wie wir heute, sondern wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Wolffschen Schule betrachtet — werden demnach "feierlich und gesetzmäßig von ihren Geschäften suspendiert", bis sie die kritische Kernfrage befriedigend beantwortet haben. Meinetwegen mögen sie ihr "Gewerbe" als eine "Kunst heilsamer Überredung" noch fernerhin betreiben, nur als Vertreter der Wissenschaft dürfen sie sich nicht aufspielen wollen. Wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt auf immer alles dogmatische Gewäsche, und er wird nie zu jener alten, sophistischen Scheinwissenschaft zurückkehren. Denn Wahrscheinlichkeit und Berufung auf den gesunden Menschenverstand können nicht als Beweise gelten. Metaphysik muß Wissenschaft sein, sonst ist sie gar nichts.
Damit sind wir bei einem Dritten angelangt. Philosophie muß endlich einmal dem ewigen Wechsel der einander ablösenden metaphysischen Systeme entrissen, zur festgegründeten und dauerhaften Wissenschaft werden. Der Kern- und Leitgedanke der gesamten zweiten Vorrede, die nach sechsjähriger Rückschau auf das Werk geschrieben ist, lautet: die neue Kritik des Erkennens muß, im Gegensatz zu dem bisherigen "bloßen Herumtappen", den "sicheren Gang einer Wissenschaft" einschlagen. Nicht weniger als zwölfmal wird das, in dieser und ähnlichen Wendungen, immer von neuem betont. Und die 'Prolegomena' wollen schon ihrem Titel nach zu einer künftigen Metaphysik führen, 'die als Wissenschaft wird auftreten können'. Zu einer vollkommenen Wissenschaft aber gehört Vollständigkeit und Einheitlichkeit des Ganzen. Und so "erkühnt" sich schon die erste Vorrede zu der stolzen Behauptung: "dass nicht eine einzige metaphysische Aufgabe sein müsse, die hier nicht aufgelöst, oder zu deren Auflösung nicht wenigstens der Schlüssel dargereicht worden," denn reine Vernunft ist vollkommene Einheit. Wäre es nicht so, "wäre ihr Prinzip auch nur zu einer einzigen aller der Fragen, die ihr durch ihre eigene Natur aufgegeben sind, unzureichend", so "könnte man dieses immerhin nur wegwerfen, weil es alsdann auch keiner der übrigen mit völliger Zuverlässigkeit gewachsen sein würde".
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*) Geschichte der Philosophie. 2 Bände. Lpz., F. Meiner. 6. Aufl. 1921. — Volkstümliche Geschichte der Philosophie. Stuttgart, Dietz, 1921. 3. Aufl. 1923.