4. Kant und Darwin
An den zuletzt erwähnten Gedanken knüpft Kant eine Hypothese an, die nicht bloß Goethes höchstes Interesse erregte (siehe unten), sondern um derentwillen auch der heutige Darwinismus sich auf ihn beruft. Er meint (§ 80): die Übereinstimmung so vieler Tierarten in einem gemeinsamen Schema nicht allein ihres Knochenbaus, sondern auch der Anordnung der übrigen Körperteile lasse einen "obgleich schwachen" Strahl von Hoffnung "in das Gemüt fallen", dass hier doch mit dem Prinzip der mechanischen Erzeugung "etwas auszurichten sein möchte". Die Ähnlichkeit der Formen, bei aller Verschiedenheit im einzelnen, lege die Vermutung an eine Abstammung von einer gemeinsamen "Urmutter" nahe. Der Altertumsforscher ("Archäologe") der Natur könne "den Mutterschoß der Erde, die eben aus ihrem chaotischen Zustande herausging (gleichsam als ein großes Tier), anfänglich Geschöpfe von minder zweckmäßiger Form, diese wiederum andere, welche angemessener ihrem Zeugungsplatze und ihrem Verhältnisse untereinander sich ausbildeten, gebären lassen".
So ergibt sich dann eine ungeheuere Stufenreihe, anfangend von der "niedrigsten uns merklichen Stufe der Natur, der rohen Materie" über Moose, Flechten und Polypen bis hinauf zu derjenigen Tiergattung, "in welcher das Prinzip der Zwecke am meisten bewährt erscheint, nämlich dem Menschen". Aus jener rohen Materie und ihren Kräften scheine die ganze Technik der Natur "nach mechanischen Gesetzen (gleich denen, wonach sie in Kristallerzeugungen wirkt)" abzustammen. Zuletzt habe dann jene Gebärmutter "erstarrt, sich verknöchert, ihre Geburten auf bestimmte, fernerhin nicht ausartende Spezies eingeschränkt", und sei deren Mannigfaltigkeit so geblieben, "wie sie am Ende der Operation jener fruchtbaren Bildungskraft ausgefallen war".
Damit scheint unser Philosoph der modernen Abstammungslehre allerdings außerordentlich nahe zu stehen. Er nennt die von ihm entwickelte "Hypothese" freilich "ein gewagtes Abenteuer der Vernunft", meint aber zugleich doch, es möchten "wenige selbst von den scharfsinnigsten Naturforschern sein, denen es nicht bisweilen durch den Kopf gegangen wäre". Indes er erhebt selbst alsbald Einwände gegen sie. Er will zunächst nichts wissen von der generatio aequivoca, d. h. der "Erzeugung eines organisierten Wesens durch die Mechanik der rohen, unorganisierten Materie"; wie ihm denn überhaupt die "Autokratie der Materie" ein "Wort ohne Bedeutung" ist. Aber auch von der an sich denkbaren Erzeugung eines spezifisch unterschiedenen Organischen durch ein anderes Organisches, z. B. der allmählichen Ausbildung von Wassertieren zu Sumpf-, dieser zu Landtieren zeige die Erfahrung kein Beispiel. Auch müsse doch für jene "allgemeine Mutter" eine zur Hervorbringung aller der nachfolgenden Geschöpfe des Pflanzen- und Tierreichs bereits zweckmäßig eingerichtete Organisation angenommen werden, desgleichen sei die Erblichkeit veränderter Charaktere ohne die Annahme einer ursprünglich vorhandenen, bloß zu entwickelnden Anlage dazu nicht zu begreifen.
Wir sehen also, dass zwischen Kant und Darwin keineswegs die enge Übereinstimmung herrscht, die einige eifrige Darwinianer behauptet haben. Unser Kritizist hält zwar die Deszendenz-Hypothese für geistreich und an sich nicht unmöglich, hält aber im wesentlichen an der Konstanz der Arten fest. Hatte er doch schon in seiner Rezension Herders, der seiner ganzen Natur nach solchen geistvollen Ideen stärker zuneigte, geäußert, die Annahme des Entspringens "einer Gattung aus einer anderen und aller aus einer einzigen Originalgattung oder etwa aus einem einzigen erzeugenden Mutterschoße" würde auf Ideen führen, die "so ungeheuer sind, dass die Vernunft vor ihnen zurückbebt", weil sich bei ihnen — "gar nichts denken läßt". Die Ableitung aber der Zweckmäßigkeit aller Organismen aus der natürlichen Zuchtwahl ist Kant noch nicht aufgegangen: fielen doch die umwälzenden Forschungen Erasmus Darwins und Lamarcks in seine letzten Greisenjahre, in denen er die wissenschaftlichen Neuentdeckungen seiner Zeit nicht mehr mit frischem Geist zu verfolgen vermochte, Dagegen hat er nach dem Zeugnis eines modernen Naturforschers, "die Bedingungen, die eine wissenschaftlich begründete Deszendenzhypothese zu erfüllen hätte, mit bewunderungswürdiger Schärfe und Klarheit für alle Zeiten endgültig festgestellt"*), also auch hier wieder vor allem methodisch-philosophische Arbeit geleistet. Schade, dass der große englische Naturforscher, dass Charles Darwin, der selbst mit seiner Theorie auf den alten, auch von Kant angezogenen Grundsatz Natura: non facit saltum (= die Natur macht keinen Sprung) sich beruft, keine philosophisch-erkenntniskritische Durchbildung besaß und so, ganz abgesehen von der den englischen Gelehrten so häufig mangelnden Kenntnis der deutschen Sprache, von Kants Ideen nichts gewußt hat. Wir empfehlen unseren Darwinianern um so lieber das Mahnwort eines der Ihrigen: "Der Gedankengang Kants hinsichtlich seiner Teleologie ist so vorsichtig, so durchaus von allem Dogmatischen entfernt, mit einem Worte so durchaus kritisch, dass er gerade den Naturforschern "nicht genug zur Erwägung empfohlen werden kann."**)
Von den zeitgenössischen Naturforschern stand Kant dem Göttinger Anatomen Blumenbach (1752—1840), mit dem er auch in Briefwechsel trat, am nächsten. Auch Blumenbach hielt an der Konstanz der Arten fest und betont scharf den Unterschied von Anorganischem und Organischem. An letzterem unterscheidet er einen nur in Organismen zu findenden Bildungstrieb, d. i. das Streben, eine bestimmte Gestalt anzunehmen, zu erhalten und wiederherzustellen. Seiner Theorie der "Epigenesis", d. i. Zeugung organischer Wesen als Produkte ihresgleichen, stimmt Kant auch deshalb zu, weil sie "mit dem kleinsten Aufwand des Übernatürlichen", abgesehen vom ersten Anfang, den die Wissenschaft überhaupt nicht zu erklären vermag, "alles folgende der Natur überläßt": anstatt mit dem Okkasionalismus ein Eingreifen der Gottheit bei Gelegenheit jedes einzelnen Zeugungsaktes anzunehmen, "wodurch alle Natur, mit ihr auch aller Vernunftgebrauch gänzlich verloren geht"; oder mit der Evolutions-(Präformations-) Theorie jedes Individuum als von Anfang an von der Hand des Schöpfers "vorgebildet" zu betrachten, was grundsätzlich auf ebendieselbe "Hyperphysik" hinausläuft (§ 81).
Die mit dem teleologischen Problem zusammenhängenden geschichtsphilosophischen Erörterungen haben wir schon im vorigen Kapitel kennen gelernt. Andere Paragraphen der Methodenlehre (§ 83—91 nebst der 'allgemeinen Schlußanmerkung') behandeln Fragen der Religionsphilosophie: Physikotheologie, Ethikotheologie, den moralischen Gottesbeweis, den moralisch-praktischen Glauben. Über die letzteren Probleme, die ja schon in der vorkritischen Zeit sein inneres Interesse erregt hatten, eingehender, als es in den beiden ersten Kritiken geschehen, sich auszusprechen, drängte es ihn wohl um so mehr, als er damals wohl noch keine besondere religionsphilosophische Schrift plante. Gerade diese Verbindung verschiedener Motive, das kunstphilosophische (dem ja der ganze erste Teil des Buches gewidmet war) nicht ausgeschlossen, in demselben Werke war dazu geschaffen, der Kritik der Urteilskraft das Herz eines Großen zu gewinnen, der bis dahin der Kantischen Philosophie eher gegnerisch als freundlich gegenübergestanden hatte.
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*) Brooks in seiner Abhandlung: 'Die Stellung Kants zur Deszendenztheorie' (1889, Biolog. Zentralblatt VIII, 641—-648), der im Gegensatz zu Haeckel auf diejenigen Stellen bei Kant aufmerksam macht, die gegen dessen "Darwinismus" sprechen. Um so bedeutsamer ist sein oben wiedergegebenes Urteil.
**) Fritz Schultze, Kant und Darwin. Jena 1875, S. 208. Im übrigen vgl. namentlich die auch heute noch nicht veraltete treffliche Schrift von A. Stadler, Kants Teleologie. Berlin 1874.