§ 65. Der naturwissenschaftliche Materialismus der 50er Jahre.
1. Der Aufschwung der Naturwissenschaften in Deutschland um 1850. Mit dem Fehlschlagen der idealistischen Bestrebungen auf dem Gebiete der Philosophie und Politik (1848 - 49), und noch mehr mit der rapiden Entwicklung der Technik und materiellen Kultur überhaupt hing der riesenhafte Aufschwung zusammen, den die naturwissenschaftlichen Studien in Deutschland gegen Mitte des 19. Jahrhunderts nahmen: während bis dahin die vorzugsweise poetischen, religiösen und spekulativen Interessen der Romantik dem Zeitgeiste das Gepräge gegeben hatten. Etwa seit 1840 beginnen die Naturforscher, ernüchtert und abgestoßen von den Spekulationen der Schelling- Hegelschen Naturphilosophie, in dem Leben der Natur etwas anderes als Offenbarungen göttlicher Ideen oder Formenspiele zu sehen. 1839 erkennen Schwanns Mikroskopische Untersuchungen die Zelle als das Elementarorgan des pflanzlichen und tierischen Organismus, 1844 heben Liebigs Chemische Briefe die chemischen Grundlagen der Pflanzen- und Tierphysiologie hervor, 1845 wendet sich mit Schleiden die Physiologie gegen die Annahme einer besonderen Lebenskraft. In dem nämlichen Jahre endlich verkündet, nachdem schon der große englische Physiker Michael Faraday auf die Wechselwirkung und schließliche Einheit der Naturkräfte hingewiesen, der schwäbische Arzt und Naturforscher Robert Mayer das einige Jahre zuvor von ihm entdeckte große Gesetz von der Erhaltung der Kraft, welches er zunächst aus der Beobachtung geschöpft hatte, dass Bewegung in Wärme übergeht. Mit diesem Gesetze, das ungefähr gleichzeitig von dem Engländer Joule, dem Dänen Colding (1846) und dem Deutschen Helmholtz (1821 - 1894, Über die Erhaltung der Kraft 1847) selbständig formuliert wurde, kehrte die moderne Naturwissenschaft wieder zu den gesunden Prinzipien zurück, die ihr ihre großen Begründer im 17. Jahrhundert gegeben hatten. Insbesondere in der Physik Faradays gelangt die experimentale Methode Galileis und zugleich das methodische Ideal Descartes' zur Reife. »Größe und Richtung: das sind die Materialien, aus denen er seine Welt errichtet.« Die materiellen Atome werden in Bewegungen, Kraftzentren und schwingende Kraftlinien, aufgelöst, und »von Faradays Kraftzentren führt ein gerader Weg zu Thompsons Wirbelatomen und zur modernen Elektronentheorie« (O. Buek).
Während nun die Mehrzahl der eben genannten Denker mit der neuen Naturansicht ausdrücklich einen religiösen Standpunkt verband, Helmholtz wenigstens eine erkenntnistheoretische Haltung einnahm, waren die glänzenden Errungenschaften der neuen Naturwissenschaft für eine andere Richtung begeisterter Forscher das Signal zu einer Erneuerung des Materialismus. Die Gedanken eines La Mettrie und Holbach kehren in verändertem, übrigens keineswegs verfeinertem Gewande wieder: die kraftbegabte Materie wird wiederum zur Basis der gesamten Weltanschauung gemacht. Es sind hauptsächlich vier Männer, die diesen naturwissenschaftlichen Materialismus - und zwar sämtlich zuerst in der ersten Hälfte der 50er Jahre - gepredigt haben: Moleschott, Vogt, Büchner und Czolbe.
2. Der erste entschiedene Materialist in Deutschland ist Jakob Moleschott, 1822 in Holland geboren, Dozent in Heidelberg, von dort infolge seines Atheismus entfernt, später Professor in Zürich, Turin und Rom, wo er 1893 starb. (Vgl. seine Selbstbiographie: Für meine Freunde, Gießen 1895). Er legt in seinem berühmt gewordenen Buche: Der Kreislauf des Lebens (1852, 5. Aufl. 1876) den Gedanken von der Erhaltung der Kraft im Kreislaufe der Natur in rein stofflichem Sinne aus. Wenn der Bergmann im Schweiße seines Antlitzes phosphorsauren Kalk aus der Erde holt, der Bauer mit ihm seinen Weizen düngt, so denkt er nicht daran, dass er damit nicht bloß den Körper, sondern am letzten Ende auch das Gehirn des Menschen nährt. »Ohne Phosphor kein Gedanke!« Mit dem Stoffe ist das Leben, mit dem Leben das Denken, mit dem Denken der Wille, das Leben besser und glücklicher zu machen, verbunden. Vermögen wir daher unserem Gehirn die besten Stoffe zuzuführen, so werden auch Denken und Wollen ihre höchste Entwicklung erreichen, und wird die soziale Frage ihre Lösung finden. Der Mensch ist die Summe von Eltern und Amme, Ort und Zeit, Luft und Wetter, Schall und Licht, Kost und Kleidung, kurz durch äußere Einflüsse durchaus bedingt. Die Naturforschung ist daher der Prometheus unserer Zeit, die Chemie die höchste Wissenschaft. Gegen Ende seines Lebens hat Moleschott übrigens betont, dass er, da der Stoff nie ohne Kraft (Geist) zu denken sei, eigentlich eine »unteilbare Zweieinigkeit«, also Monismus, nicht Materialismus lehre.
3. Zu einem heftigen Zusammenstoß der neuen mit der älteren Denkweise kam es auf der Naturforscherversammlung zu Göttingen (1854) zwischen dem Göttinger Physiologen Rudolf Wagner (1805 - 64) und dem Genfer Zoologen Karl Vogt (geb. 1817 in Gießen, 1847 Professor daselbst, 1849 »Reichsregent«, 1852 - 95 Professor in Genf). Wagner hatte in seinem Vortrag Menschenschöpfung und Seelensubstanz behauptet, dass bezüglich der Entstehung des Menschengeschlechtes die jüngsten Ergebnisse der Naturwissenschaft ganz wohl mit dem biblischen Berichte (Abstammung von einem Paare) vereinbar seien, und in einer in demselben Jahre erschienenen Schrift die Seele als eine Art ätherische Substanz dargestellt, die, nach dem Tode des Menschen in einen anderen Weltraum entrückt, einst von dort zurückkehren und mit einem neuen Körper ausgestattet werden könne. In Sachen des Glaubens liebe er den »schlichten, einfachen Köhlerglauben« am meisten. Hiergegen wandte sich Vogt in einer äußerst derben Streitschrift: Köhlerglaube und Wissenschaft (1855), die in kurzer Zeit vier Auflagen erlebte und sich zu dem Satze verstieg, daß, »um es einigermaßen grob auszudrücken, die Gedanken etwa in demselben Verhältnis zum Gehirn stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren« Der Ursprung des Menschen ist ein vielfältiger, es gibt weder persönliche Unsterblichkeit noch eine Seelensubstanz; der Mensch unterscheidet sich seiner Natur nach in nichts von dem Tiere. An Stelle der »sittlichen Weltordnung«, die »auf dem Beben vor einer unsichtbaren Ferne beruht«, will Vogt die Erkenntnis setzen, dass »kein Mensch einen Anspruch für sich erheben dürfe, den er nicht seinen Mitmenschen im vollsten Maße gestatten will« [Ist das nicht auch eine Art sittlicher Weltordnung?] Das Verbrechen sei als Krankheit aufzufassen u.a.m. In strengerer wissenschaftlicher Form stellte er seine Lehre später in den Vorlesungen über den Menschen (Gießen 1863) und anderen Schriften dar. Wie das Bewußtsein aus den Gehirnzellen entstehe, hält übrigens auch Vogt für unerklärbar.
4. Wie Moleschott und Vogt, so mußte auch des letzteren Landsmann Louis Büchner (in Darmstadt, 1824 bis 1899) die in Tübingen begonnene akademische Laufbahn aufgeben, als er sich in seinem Hauptwerk Kraft und Stoff (1854) offen zum Materialismus bekannte. Büchner ist mehr Popularisator und Verbreiter dieser Anschauung als selbständiger Forscher gewesen. Kraft und Stoff, erklärt er im Anschluß an Moleschott, bilden beide zusammen von Ewigkeit her und in alle Ewigkeit hin diejenige Summe von Erscheinungen, welche wir Welt nennen. Alle Naturund geistigen Kräfte »wohnen« in der Materie. Wie durch die Dampfmaschine Bewegung, so wird durch die Maschine des tierischen Organismus eine »Gesamtsumme gewisser Effekte« erzeugt, die wir Geist, Seele, Gedanke nennen. Die psychische Tätigkeit ist nichts anderes als die zwischen den Zellen der grauen Hirnrinde geschehende »Ausstrahlung einer von äußeren Eindrücken geleiteten Bewegung« Doch gestand er später zu, dass Kraft und Stoff »vielleicht nur zwei verschiedene Seiten desselben Urgrundes aller Dinge darstellen«, und dass sie, trotz ihrer Unzertrennlichkeit, »begrifflich« sehr weit auseinander liegen, ja »in gewissem Sinne einander geradezu negieren« Die letzten Rätsel des Lebens bekennt auch er nicht lösen zu können; man dürfe die Schranken der Erfahrung nicht überschreiten.
Büchner hat bis zu seinem 1899 erfolgten Tode noch eine große Reihe anderer Schriften derselben Tendenz geschrieben; keine jedoch hat den Erfolg seines ersten Werkes, das 1877 in 12., 1904 in 21. Auflage erschien, auch nur entfernt erreicht. Er will ausdrücklich für das große Publikum der »Gebildeten« schreiben. »Philosophische Ausführungen, die nicht von jedem Gebildeten begriffen werden können, verdienen nicht die daran gewandte Druckerschwärze.« Neben gesunden naturwissenschaftlichen Anschauungen findet man bei ihm viel Oberflächliches. In praxi bleibt er übrigens, wie die meisten dieser »Materialisten«, ein idealistischer Schwärmer für das Wahre, Humane und Schöne; für die Begründung einer Ethik dagegen hat er nie eine Spur von Verständnis gezeigt, beinahe ebensowenig für die soziale Frage.
5. Philosophisch bedeutender ist H. Czolbe (Arzt in Königsberg, 1819 - 73), auf den F. A. Lange zuerst weitere Kreise aufmerksam gemacht hat. Durch den Pantheismus (Hölderlin, Strauß, Bruno Bauer, Feuerbach) hindurchgegangen, will er in seiner Neuen Darstellung des Sensualismus (1855) den Materialismus, d.h. nach ihm »die Erklärbarkeit aller Dinge auf natürliche Weise« folgerichtiger als Feuerbach, Vogt und Moleschott begründen. Diese befänden sich im Grunde noch immer auf dem Boden der von ihnen angefeindeten spekulativen Philosophie; Czolbe schließt das Übersinnliche von vornherein aus. Doch beruht auch sein Grundprinzip der sinnlichen Anschaulicheit des Denkens, das Festhalten an der »Wirklichkeit« gegenüber dem »Blödsinn der Transzendenz« am letzten Ende auf einem übersinnlichen Moment, nämlich dem Bedürfnis nach »Einheit und Harmonie unseres ganzen bewußten Lebens« Eine spätere Schrift Czolbes: Die Grenzen und der Ursprung der menschlichen Erkenntnis (1865), gesteht zu, dass die Welt nicht aus einem Prinzip allein - sei es nun die Materie Büchners oder der »Geist« der spekulativen Philosophie oder der Gott der Theologen - erklärt werden könne, sondern aus mehreren, nicht weiter abzuleitenden Grundbestandteilen: den materiellen Atomen, den organischen Grundkräften und den psychischen Elementen, deren harmonisches Zusammenwirken in einer Art Weltseele einen zweckmäßigen Naturzusammenhang ermögliche. Der letzte Zweck der Welt besteht in dem »durch die möglichste Vollkommenheit bedingten Glück jedes fühlenden Wesens«.
6. Spätere Anhänger des Materialismus und verwandte Richtungen. Von dem Materialismus Ueberwegs, der in Königsberg mit Czolbe verkehrte, ist schon S. 345 die Rede gewesen. In populären Schriften ist der reine Materialismus bis heute noch oft verkündet worden; in der philosophischen Literatur erhielt die Bewegung einen gewissen Abschluß durch das allerdings an weiteste Kreise sich wendende Bekenntnis des alten D. Fr. Strauß: Der alte und der neue Glaube (1872), das beinahe ebensoviel Aufsehen machte als einst sein Leben Jesu, jetzt aber fast vergessen ist (11. Aufl. 1881, 14. und letzte Aufl. 1895, »Volksausgabe« 1904). Übrigens gehört genau genommen nur der dritte Abschnitt: Wie begreifen wir die Welt? in diesen Zusammenhang, während die drei übrigen (1. Sind wir noch Christen? 2. Haben wir noch Religion? 4. Wie ordnen wir unser Leben?) im wesentlichen nur religiöse, ethische und soziale Kritik enthalten. Die letztere ist sehr schwach, wie denn überhaupt fast sämtliche bloß naturwissenschaftliche Materialisten für die Bedeutung der sozialen Frage auffallend wenig Verständnis verraten. Seit Strauß hat der entschiedene Materialismus keinen namhaften philosophischen Vertreter mehr gehabt. Denn E. Haeckel, den manche vielleicht als solchen ansehen, gehört, wenn überhaupt zur Philosophie, zur monistischen Entwicklungsphilosophie, die uns weiter unten (§ 67 f.) beschäftigen wird. Der historische und ökonomische Materialismus aber steht auf einem ganz anderen Blatte. Andere neuere Systeme, wie Dührings »Wirklichkeitsphilosophie« oder Avenarius' »Philosophie der reinen Erfahrung«, zeigen zwar materialistischen Einschlag, können jedoch nicht ohne weiteres hierher gezogen werden (s. § 77).
Als nächster und heftigster, wenngleich nicht stärkster Gegner der materialistischen Zeitrichtung erhob sich die ihr diametral entgegengesetzte Weltanschauung: der Spiritualismus der spekulativen bezw. theologisierenden Philosophie.