3. Rudolf Stammler
Stammler (geb. 1856, lange Professor der Rechte in Halle, jetzt Berlin) hat die kritische Methode vor allem auf das sozial- und rechtsphilosophische Gebiet übertragen: auf ersteres in seinem Werke Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung (1896, 3. Aufl. 1914), auf das letztere in der Lehre von dem richtigen Rechte (1902) und Theorie der Rechtswissenschaft (1911).
a) Sozialphilosophie. Das erste Buch unternimmt eine systematische Begründung des sozialen Idealismus auf dem Grunde Kantischer Erkenntniskritik, die gegenüber Dogmatismus und Skeptizismus, Materialismus und Spiritualismus, psychologischer und genetischer Betrachtungsweise als die richtige Methode erkannt und durchgeführt wird. Zunächst wird der Gegenstand der Sozialwissenschaft, das soziale Leben, begrifflich festgestellt als das »durch äußerlich verbindende Normen geregelte Zusammenleben von Menschen«, dessen »Materie« die Wirtschaft, dessen »Form« das Recht bildet. Es gilt weiter, nach einem Worte Natorps »alles Erfahrbare in einer Einheit des gesetzlichen Zusammenhangs zu begreifen«, somit das soziale Leben als einen »Monismus« zu verstehen. Zu dessen Begründung hat den wertvollsten Beitrag bis jetzt die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung (der Marxismus) geliefert, indem sie auf den Zusammenhang der geistigen mit den zugrunde liegenden ökonomischen Bewegungen hinwies. Alle Wandlungen der Gesellschaft müssen nach einer einheitlichen Methode als Glieder einer und derselben sozialen Erfahrung begriffen werden: es kann auch hier nur eine Kausalität geben. Aber neben der kausalen Erklärung, die nach Ursache und Wirkung forscht, existiert als gleichberechtigter Standpunkt der der teleologischen Beurteilung, die nach Mittel und Zweck bis hinauf zu der obersten Einheit möglicher Zwecksetzung, dem Endzweck fragt. Die konkreten sozialen Bestrebungen erwachsen freilich stets aus gegebenen sozialen Zuständen, aber sie unterliegen der Leitung nach Wünschen und Zielen der Menschen, deren oberster Maßstab nur der formale Gedanke, d. i. richtunggebende einheitliche Gesichtspunkt eines Endzwecks (Endziels) sein kann. Als solches erscheint Stammler die »Gemeinschaft frei wollender Menschen«, in der »ein jeder die objektiv berechtigten Zwecke des anderen zu den seinigen macht«
b) Rechtsphilosophie. Die rechtsphilosophische Ergänzung dieser Sozialphilosophie brachte Stammler zunächst in der Lehre vom richtigen Recht.
Recht und Ethik haben zwar den gleichen Stoff, aber verschiedene Aufgaben. Wenn auch das Recht, d. i. der Zwangsversuch zum Richtigen, zu seiner vollkommenen Erfüllung der sittlichen Lehre bedarf, wie diese des richtigen Rechts zu ihrer Verwirklichung, so ist doch die wissenschaftliche Begründung beider nach kritischer Methode zu scheiden.
Wissenschaft geht auf Einheit, reine Wissenschaft auf unbedingte Einheit. Zu dem geschichtlichen (gesetzten, positiven) Recht als Stoff ist im Begriffe des richtigen Rechts die logisch bedingende Form, (Kants a priori) zu suchen. Da nun die rechtliche Regelung dazu da ist, ein bestimmtes Verhalten der ihr Unterstellten zu bewirken, so ist eine systematische Gesetzmäßigkeit der Zwecke, d.h. zu bewirkender Gegen stände herzustellen, die nicht den kausalen Verlauf irgendeines zeitlichen Geschehens, sondern die einheitliche Verknüpfung von Bewußtseinsinhalten im Auge hat. Als Norm und Grundgesetz dieser Einheit der Zwecke kann weder Freiheit noch Gleichheit, weder Nutzen und Wohlfahrt, auch wenn sie unter dem schönen Namen »Gemeinwohl« verkappt sind, noch Vollkommenheit in Frage kommen, sondern nur der formale Gedanke der Einheit selber, der in jenem sozialen Ideal der »Gemeinschaft frei wollender Menschen« seinen Ausdruck findet. Er enthält, als die Einheit seiner Bedingungen, die Idee des »richtigen« Rechtes. Aus ihr sind dann die »Grundsätze« des letzteren, insbesondere die der gegenseitigen Achtung und wechselseitigen Teilnahme, und in weiterer Abstufung die »Vorbilder« desselben bis herab zu den »begründeten Urteilen im Einzelfalle« abzuleiten.
In noch umfassenderer Weise sucht Stammlers drittes Werk, die Theorie der Rechtswissenschaft (1911), eine reine Rechtslehre nach formal-kritischer Methode zu begründen, wie Kant selbst sie nicht ausgeführt hat, da seine Rechtslehre »die kritische Methode fallen ließ und in den Bahnen des damals herrschenden Naturrechts verblieb« Stammlers Theorie dagegen will »die allgemeingültige Art und Weise des juristischen Denkens« feststellen im Sinne der kritischen Methode, die nach unbedingter systematischer Einheit strebt. Zu dem Ende wird zunächst der Begriff des Rechts untersucht und letzteres schließlich als das unverletzbar selbstherrlich verbindende Wollen bestimmt. Geltung des Rechts bedeutet die Möglichkeit seiner Durchsetzung; das geltende Recht bleibt ein Teil des gesetzten Rechts und hängt mit seiner Beziehung auf bestimmte Menschen zusammen. Aus dem obersten Begriffe des Rechts leiten sich dessen Kategorien, d.h. diejenigen Grundbegriffe ab, welche die Jurisprudenz erst zur Wissenschaft machen: z.B. vom Wollen die des Rechtssubjekts und -objekts, vom Verbinden die des Rechtsgrundes und Rechtsverhältnisses usf. Aus diesen einfachen entstehen dann durch ihre Kombination 24 »zusammengezogene« Grundbegriffe, weiter zeitlich und logisch »einreihende« Aus den einfachen rechtlichen Grundbegriffen ergeben sich auch die Grundaufgaben des Rechts. Die Methodik des Rechts besteht in der eigentümlichen juristischen Begriffbildung, der Geschlossenheit der Rechtsbetrachtung und der Darlegung der verschiedenen Arten der Rechtssätze, worauf dann der einheitliche Zusammenschluß in der juristischen ›Konstruktion‹ folgt. Das System, d.h. die erschöpfend gegliederte Einheit des Rechts, leitet zunächst aus dem Rechtsgedanken die »reinen« Einteilungen des Rechts ab, behandelt sodann das systematische Einteilen bestimmter Rechtsordnungen und weist schließlich auf die Unbegrenztheit des Rechtsgedankens hin. Damit ist der Übergang zur Rechtsidee gegeben, d. i. dem »Gedanken eines unbedingt gültigen Verfahrens, den Inhalt aller jemals möglichen Zwecke und Mittel einheitlich zu richten«, wobei das rechtliche Wollen der Idee des ›freien‹ Wollens überhaupt untergeordnet wird. Von diesem obersten Gipfel der Rechtsphilosophie führen dann die letzten Abschnitte des umfassenden Werkes (850 S.) wieder zu den Anwendungen: der Technik, der Praxis und der Geschichte des Rechts zurück, von denen der letzte mit einem Ausblick auf den Endzweck des ganzen menschlichen Getriebes schließt.
Literatur: J. Breue, Der Rechtsbegriff auf Grund der Stammlerschen Sozialphilosophie 1912. P. Natorp, Recht und Sittlichkeit in: Kantstud. XVIII. Vgl. auch Stammlers eigene kurze Zusammenfassung seiner Lehre in: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft (Teubners, ›Kultur der Gegenwart‹ II, 8), 1906; Begriff und Bedeutung der Rechtsphilosophie (Ztschr. f. Rechtsphilosophie) 1913.