3. Hans Vaihinger
An den oben erwähnten Satz Langes, dass Materie, Ding an sich, Atom usw. keine wirklichen »Dinge«, sondern nur »Hilfsbegriffe« des menschlichen Denkens sind, knüpft Hans Vaihinger (geb. 1852, seit 1884 in Halle), der sich schon in seiner Jugendschrift Hartmann, Dühring und Lange (1876) von Lange stark berührt zeigte, an: in seiner in der Hauptsache schon vor dreiundeinhalb Jahrzehnten von ihm verfaßten Philosophie des Als ob (Berlin 1911, 3. Aufl. 1918, 4. Aufl. im Druck), einem »System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit« Die Fiktionen haben nach V. eine außerordentlich weittragende Bedeutung als Hilfsbegriffe auf allen Gebieten menschlichen Denkens. Von ihren zwölf Arten seien als die am häufigsten vorkommenden nur die mathematischen, juristischen, ethischen und religiösen genannt. Fiktionen sind z.B. die Begriffe des Atoms, des Unendlichen, der Willensfreiheit, des Dings an sich oder Absoluten; ja auch scheinbar so feststehende wie die der Kategorien, der Kraft, der Materie. Fiktive Methoden sind die der Zerlegung, Zusammenfassung, symbolischen Bezeichnung, abstrakten Verallgemeinerung und unberechtigten Übertragung. Oft kann mit »bewußt falschen« Vorstellungen doch Richtiges erreicht werden, weil die Fiktionen in diesen Fällen nicht bloß nützlich, sondern unentbehrlich sind. Wie in nahezu sämtlichen Wissenschaften, so hat auch in der Geschichte der Philosophie die Fiktion von jeher eine wichtige Rolle gespielt, von Parmenides und Plato bis zu F. A. Lange und Nietzsche; namentlich auch bei Kant, wie Vaihinger durch zahlreiche Beispiele zu beweisen sucht. Weil sich die Fiktion sprachlich besonders häufig in die Form eines »Als ob« kleidet, nennt V. diese Betrachtungsweise, die er als die seine anerkennt, die Philosophie des Als ob. Während man die Fruchtbarkeit dieses Gesichtspunktes von den verschiedensten Standpunkten aus nicht verkennen wird, erhebt V. ihn zu einer besonderen Philosophie, einem idealistischen Positivismus. Positivismus, indem diese Denkweise »entschieden im Gegebenen fußt und entschieden alles leugnet, was darüber hinaus noch etwa auf Grund angeblicher intellektueller oder ethischer Bedürfnisse als ›real‹ angenommen werden mag«; idealistisch, indem sie die aus jenen intellektuellen und ethischen Bedürfnissen entstandenen ›Ideen‹ »anerkennt und herübernimmt als nützliche, wertvolle Fiktionen der Menschheit, ohne deren Annahme das menschliche Denken, Fühlen und Handeln verdorren müßte« Vaihingers ›Philosophie des Als ob‹ berührt sich, wie er selbst in seinem Vorwort ausführt, mit den verschiedensten Richtungen der Gegenwart, wie dem Voluntarismus Wundts, Paulsens und der Neufichteaner, der biologischen Erkenntnistheorie von Mach und Avenarius, mit Nietzsche und mit dem Pragmatismus und hat daher auch vielfache Beachtung gefunden. Mit Langes ethisch-praktischer, z.B. sozialer, Stellungnahme hat Vaihinger dagegen nichts zu tun. Seit Januar 1919 erscheinen Annalen der Philosophie, die sich die besondere Rücksicht auf die Probleme der »Als-Ob-Betrachtung« zum Ziele gesetzt haben, herausg. von H. Vaihinger und Raymund Schmidt.
Langes ganzes Wesen war überhaupt nicht geeignet, eine »Schule« zu bilden. Als gegenwärtiger Anhänger wäre wohl nur sein Biograph und Herausgeber O. A. Ellissen (geb. 1859, Gymnasialprofessor in Einbeck) zu bezeichnen. Dagegen hat er außerordentlich vielen Anregungen gegeben. In keinem anderen Zusammenhange mit ihm stehen denn auch die im folgenden behandelten Neukantianer (im engeren Sinne), die, gerade was ihren »Kantianismus« angeht, sich wesentlich von ihm unterscheiden.