I. Die Utopisten
Die Utopisten machen, auf dem durch das 18. Jahrhundert entwickelten Gedanken der freien menschlichen Persönlichkeit fußend, von den moralischen Gesichtspunkten der Gerechtigkeit und des Mitleids aus ihre Vorschläge zur Umbildung der bestehenden Gesellschaft. So vor allem die Franzosen St. Simon und Fourier und der Engländer Owen.
1. Graf Henri von Saint-Simon (1760-1825), Sprößling einer der ältesten Adelsfamilien Frankreichs, fordert in seinen Schriften: De l'industrie (1817), l'Organisateur (1819/20), Catéchisme des Industriels (1823/24) und Le nouveau Christianisme (1825) eine neue Gesellschaft, die allein auf die Organisation der Arbeit gegründet ist. Die politische Regierung über Menschen ist in eine Verwaltung von Dingen, eine Leitung von Produktionsprozessen zu verwandeln. An Stelle des kriegerischen soll der Industriestaat, an Stelle des dogmatischen Buchstabenchristentums ein neues, soziales Christentum treten, mit dem einen Glaubenssatze: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Allen Menschen soll die freieste Entwicklung ihrer Anlagen gesichert werden. Jedem die Arbeit nach seiner Fähigkeit, jeder Fähigkeit der Lohn nach ihrer Arbeit!
Mehr unmittelbaren Erfolg als St. Simon selbst hatten bald nach seinem Tode seine Schüler Bazard und Enfantin, von denen jener die ökonomische Lehre des Meisters weiter auszubauen strebte, während des letzteren »soziale Religion« die Gedanken der »Heiligung« durch »Freude« und der Emanzipation des Fleisches schließlich in einer Weise betätigte, welche die polizeiliche Auflösung seiner Sekte zur Folge hatte.
2. Unabhängig von St. Simon baute Charles Fourier (1772-1837) seine harmonische Regelung der neuen Gesellschaft auf der vernünftigen Befriedigung aller menschlichen Neigungen und Triebe auf. Die Arbeit soll vermöge des Prinzips der »passionellen Attraktion« zum Genuß erhoben werden. Jeder hat das Recht und die Pflicht zu der seiner Eigenart entsprechenden Arbeit, wobei die Gleichgearteten sich schon von selbst assoziieren werden; der Ertrag wird nach dem jeweiligen Aufwande von Kapital, Arbeit und Talent verteilt. Von Fouriers geschichtsphilosophischen Gedanken ist der zu erwähnen, dass jede geschichtliche Phase und so auch die ganze Menschheitsentwicklung ihren aufsteigenden und absteigenden Ast habe. Er ist stärker in der Kritik der bestehenden als in dem positiven Aufbau seiner Zukunftsgesellschaft, der sehr viel Phantastisches enthält.
Fourier, der sein Leben lang ein armer Kommis blieb, wartete umsonst auf den Millionär, der ihm die Mittel zur Errichtung seines ersten Phalanstère (Riesengebäude für 1800 Personen) bringen sollte. Sein treuester Anhänger, der erst 1893 gestorbene Victor Considérant (geb. 1808), hat die Lehre des Meisters in zahlreichen Schriften vertreten.
Mit Philosophie sehr wenig zu tun hat die Utopie Cabets Voyage en Icarie (1840), die ihr Verfasser vergebens in Nordamerika praktisch zu verwirklichen, suchte; desgleichen die staatliche »Organisation der Arbeit«, die Louis Blanc (1803-82) in seiner gleichnamigen Schrift (1840) verfocht und 1848 in den Pariser »Nationalwerkstätten« für kurze Zeit ins Leben rief.
3. In England hatte schon vor Owen der menschenfreundliche Arzt Charles Hall (um 1745-1825) die aus dem Gegensatz von Arbeit und Kapital entsprungenen Schäden in seiner Schrift The effects of civilisation on the people in European states (1805, deutsch G. Adler 1905) rücksichtslos dargelegt, aber seine Besserungsvorschläge wollen das Rad der Entwicklung zurückdrehen (Landwirtschaft als Grundlage, Verbot der Luxusindustrie u. ä.).
Anders der menschenfreundliche Fabrikant Robert Owen (1771-1858), der aus der von ihm geleiteten Baumwollspinnerei zu New Lanark eine Musterkolonie machte. Er kam auf den Gedanken, dass alle Wohlfahrtseinrichtungen nicht ausreichten, um seine Arbeiter aus der Sklaverei zu allseitiger und vernunftgemäßer Entwicklung des Charakters und Verstandes, geschweige denn zu freier Lebenstätigkeit zu führen. Daraus entsprang sein späterer Kampf gegen Privateigentum, Kirche und die kapitalistische Form der Ehe, für Hebung der Volksschule und Arbeiterschutz. Während er in der Hauptschrift der ersten Epoche A new view of society (1813) das Hauptheilmittel in einer veränderten Erziehung der Jugend gesehen hatte, geht er in seinem Book of the New moral world (7 Teile, 1836-49), dem schon 1834 eine Zeitschrift gleichen Namens vorausging, zu entschiedenem Sozialismus über. Da der Charakter des Menschen ein Produkt seiner Anlagen und der ihn umgebenden Verhältnisse ist, müssen die letzteren so geordnet werden, dass gute Menschen daraus hervorgehen. Da nun aber der Mensch von Natur gut ist, wie Owen mit Rousseau und den meisten anderen Sozialphilosophen des 18. Jahrhunderts annimmt, so braucht man nur die »natürliche Ordnung« der Dinge herzustellen bezw. den Menschen zu predigen, die sie dann von selbst wollen werden. Diese Ordnung besteht in der genossenschaftlichen Produktion, die an Stelle der einander niederkonkurrierenden Einzelbetriebe tritt und die erzeugten Güter nicht nach der Leistung, sondern nach dem Bedürfnis verteilt. Auf dem Felde der Konsum- und Produktivgenossenschaften hat Owens Beispiel tatsächlich bahnbrechend gewirkt, während seine kommunistische Siedelung New Harmony in Nordamerika sich nicht halten, konnte und weitere Kolonisierungspläne in Mexiko ebenfalls scheiterten.
4. In Deutschland traten, wenn wir von dem vereinzelten eigenartigen Versuche Fichtes (S. 281 f.) absehen, die sozialistischen oder, wie man um 1850 in der Regel noch sagte, »kommunistischen« Ideen weit später hervor als bei den beiden westeuropäischen Nationen. Mit dem Schneidergesellen Weitling, der die Lehren des französischen Utopismus in sich aufnahm und in seinen Garantien der Harmonie und Freiheit (1842) - jetzt neu herausgegeben von F. Mehring (1908) - sowie in seinem vielgelesenen Evangelium des armen Sünders den Proletariern predigte, tritt der Sozialismus zum erstenmal in Verbindung mit der Arbeiterschaft, die durch raschen Umsturz des Bestehenden zu erreichen hoffte, was die Utopisten durch Erweckung humaner Gesinnung erstrebt hatten*). - In den 50er Jahren schrieb ein heute fast verschollener Marburger, dann Kasseler Professor Winkelblech (1810-65) unter dem Pseudonym Karl Marlo ein halbsozialistisches System der Weltökonomie (1850-69, trotz seiner 4 Bände unvollendet, 2. Aufl. 1884-86). Auch der Staatssozialismus des pommerschen Rittergutsbesitzers Karl Rodbertus (1805-75) kann hierher gezogen werden, der dem Staate die Aufgabe zuweist, das private Boden- und Kapitaleigentum allmählich - in einem Zeitraum von etwa fünfhundert Jahren! - in kommunistisches Arbeitseigentum überzuführen. Im übrigen gehört Rodbertus' sozialistische Lohn- und Werttheorie in das uns hier nicht interessierende volkswirtschaftliche Gebiet. Auf ihn berief sich vielfach die seit den 70er Jahren dem »Manchestertum« entgegentretende nationalökonomische Schule der sogenannten »Kathedersozialisten« (Held, Schmoller, Adolf Wagner, Joh. Huber, Schäffle, Rudolf Meyer u. a.).
Einen eigenartigen Staats-, man möchte fast sagen Juristischen Sozialismus vertrat neuerdings auch Anton Menger (Wien, 1843-1906) in seinen Schriften: Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag (1886, 3. Aufl. 1904), Neue Staatslehre (2. Aufl. 1904), Neue Sittenlehre (1905).
Literatur: F. Muckle, Henri de Saint-Simon, die Persönlichkeit und ihr Werk. Jena 1908. - Über Fourier vgl. die gleichnamigen Schriften von A. Bebel (1888, 3. Aufl. 1907), H. Greulich (1881) und besonders Bourguin, Paris 1905. - Helene Simon, Robert Owen, sein Leben und seine Bedeutung für die Gegenwart. Jena 1905. - W. E. Biermann, K. G. Winkelblech (Karl Marlo), sein Leben und sein Werk. 2 Bde. Lpz. 1909.
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*) Näheres über Weitling und die Entwicklung des deutschen Sozialismus überhaupt s. bei F. Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, 2 Teile,Stuttgart 1897 f., 4. Aufl. 1909.