1. Empiriokritizismus.


Eine gewisse Verwandtschaft mit der »immanenten« Philosophie zeigt der von Avenarius mit großem Scharfsinn und unter Anwendung einer neuen Terminologie begründete Empiriokritizismus oder ›Philosophie der reinen Erfahrung‹ insofern, als auch er eine unaufhebbare Korrelation zwischen dem »Aussage-« und dem »Umgebungsbestandteil« unserer Erfahrung, mit anderen Worten zwischen Subjekt und Objekt annimmt. Aber Avenarius geht von der Erfahrung aus. Philosophie ist = Begreifen des Gegebenen in einer widerspruchsfreien einheitlichen Weltansicht. Aller Erfahrungs- oder Aussageinhalt des Menschen (die sogenannten E-Werte) aber ist unmittelbar von seinem Zentralnervensystem (C), mittelbar von den Umgebungsbestandteilen oder Reizen (R) abhängig, wozu noch die Wirkungen des Stoffwechsels (S) treten. Die Schwankungen bezw. die Selbstbehauptung des Systems C bestimmt das gesamte Leben des Individuums, also alle Erkenntnis-, Gefühlswerte usw. Da nun eigene und fremde Erfahrung grundsätzlich gleichberechtigt sind, so ist es die Aufgabe einer »Kritik der reinen Erfahrung«, aus der »naiven« durch Ausschaltung aller bloß individuellen, logisch unhaltbaren Elemente die »reine« Erfahrung herzustellen; wobei das »Prinzip des kleinsten Kraftmaßes« auch in der ökonomischen Verwertung der geistigen Kräfte zur Anwendung kommt. So entsteht aus dem »natürlichen« der »reine« Welt- oder Universalbegriff, der das Gemeinsame aller möglichen individuellen und historischen Erfahrungen enthält. Als »reine« Erfahrung gilt nur das Wahrgenommene, »Sachhafte«, nach Entfernung aller subjektiven »Introjektionen« und »Beibegriffe«

Die Hauptwerke von Richard Avenarius (1843-96, zuletzt in Zürich) sind: Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes, 1877 (2. Aufl. 1903), Kritik der reinen Erfahrung, 2 Bde., 1888-90 (2. Aufl. 1907 f.), und Der menschliche Weltbegriff, 1891 (3. Aufl. 1912). Seine Lehre wird gegenwärtig eifrig vertreten von Carstanjen (Zürich), Willy (Privatlehrer in der Schweiz) und Petzoldt (Spandau, Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung, 1900-04). Vgl. auch eine Reihe von Abhandlungen in der bereits 1877 von Avenarius begründeten Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, die übrigens nie bloßes Schulorgan war und heute, unter der Redaktion von P. Barth (s. § 78), unter Mitwirkung von Al. Riehl und lange Zeit E. Mach, den Empirismus ohne bestimmte Färbung vertritt. Als Kern der von ihm jetzt als positivistisch bezeichneten Auffassung formuliert Petzoldt in seinem Mach gewidmeten Büchlein Das Weltproblem vom positivistischen Standpunkte aus (Teubner, 3. Aufl. 1912) folgende Sätze: Es gibt keine Welt an sich, sondern nur eine Welt für uns. Ihre Elemente sind nicht Atome oder sonstige absolute Substanzen, sondern Farben-, Ton-, Druck-, Raum-, Zeit- und andere Empfindungen. Trotzdem sind die Dinge nicht bloß subjektive Bewußtseinserscheinungen, vielmehr müssen wir die aus jenen Elementen zusammengesetzten Bestandteile unserer Umgebung in derselben Weise wie während der Wahrnehmung fortexistierend denken, auch wenn wir sie nicht mehr wahrnehmen. Petzoldt hat 1912 auch eine besondere Gesellschaft für positivistische Philosophie gegründet, die seit 1913 eine Zeitschrift für positivistische Philosophie (M. Baege) herausgibt.

 

Literatur: W. Wundt im XIII. Bd. der Philos. Studien (1898). - O. Ewald, Avenarius als Begründer des Empiriokritizismus, 1905. - Suter, Die Philosophie von R. Aven., Zürich 1910. - F. Raab, Die Philosophie von R. Avenarius, Lpz. 1912.


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