§ 68. Die Entwicklungsphilosophie Spencers.


1. Schriften. Bereits sieben Jahre vor dem Auftreten Darwins hatte Herbert Spencer (1820 - 1903) einen Aufsatz über die Entwicklungshypothese geschrieben und ein Jahr vorher den Plan zu seinem, unter den größten Schwierigkeiten von ihm festgehaltenen, großen Lebenswerk gefaßt: einer umfassenden Darstellung des Entwicklungsprinzips auf den Gebieten der Biologie, Psychologie, Soziologie und Ethik, das er, in späterer Zeit von einem Stabe jüngerer Mitarbeiter unterstützt, erst in seinem letzten Jahrzehnt zu Ende geführt hat. Als einleitender Band erschienen 1860 die First Principles (Erste Prinzipien); es folgten die Prinzipien der Biologie (Bd. II, III, 1864 - 67), der Psychologie (Bd. IV, V, 1870 - 72), der Soziologie Bd. VI - IX, 1876 - 96) und der Ethik (Bd. X, XI, 1879 - 93). Eine deutsche Übersetzung lieferte B. Vetter 1875 ff. (Bd. I in 2. Auflage von V. Carus, 1901). Daneben hat Spencer seit 1843 noch eine Reihe von Einzelarbeiten geliefert, unter denen wir namentlich seine in England sehr verbreitete (23. Aufl. 1890) Schrift über Intellektuelle, moralische und physische Erziehung (deutsch von F. Schultze 1874, 5. Aufl. 1905) hervorheben; seine ersten Schriften waren nicht biologischen, sondern ethisch-politischen Inhalts. Die von ihm hinterlassene umfangreiche Autobiographie haben L. und H. Stein in deutscher Übersetzung (2 Bde., Stuttgart 1905) herausgegeben.

2. Grundbegriffe. Auch Spencers Schreibart besitzt die gewöhnliche englische Breite, sodass die leitenden Prinzipien seiner Synthetischen Philosophie sich verhältnismäßig kurz zusammenfassen lassen. Von den verschiedensten Seiten führt unser Denken uns auf ein letztes Unerkennbares (Absolutes, auch »Kraft« genannt), dessen Anerkennung zugleich die einzige Möglichkeit einer Versöhnung zwischen Religion und Wissenschaft bietet. Das innerste Wesen dieser unerforschlichen Kraft wird sich uns freilich niemals enthüllen. Aber dieser »Agnostizismus« Spencers ist nur ein relativer. Zwar nicht das Sein, wohl aber das Werden ist erkennbar, und Wissenschaft bedeutet die teilweise, Philosophie die vollkommen vereinheitlichte Erkenntnis dieses Werdens. Grundvoraussetzungen alles wissenschaftlichen Denkens, also Wahrheiten a priori sind: die Unzerstörbarkeit des Stoffes, die Fortdauer der Bewegung und die Erhaltung der Kraft. Der gesamte Weltprozeß besteht in einer beständigen Andersverteilung von Stoff und Bewegung, Entwicklung und Auflösung, Leben und Tod. Entwicklung heißt Übergang aus einem zusammenhangloseren in einen zusammenhängenderen Zustand des Ganzen (Integration), verbunden mit dem Übergang von unbestimmter Gleichartigkeit zu bestimmter Ungleichartigkeit seiner Teile (Differenzierung). Eine Erscheinung erklären heißt: sie als Teil dieses Entwicklungsprozesses erkennen.

3. Anwendungen. Das Wertvolle der Spencerschen Darlegungen besteht in der Anwendung dieser, induktiv und deduktiv entwickelten, allgemeinen Grundsätze auf das weite Feld des Anorganischen (Astronomie, Geologie) und Organischen (Biologie, Psychologie, Soziologie und Ethik). Dieselbe beginnt bereits in den First Principles und erhält ihre Ausführung auf dem Gebiet des Organischen in den oben aufgeführten Werken. Jeder Teil geht zunächst von den wissenschaftlichen Grundtatsachen (Daten) der betreffenden Wissenschaft aus, um daran induktive Verallgemeinerungen zu knüpfen und von diesen schließlich zu zusammenhängenden Synthesen und speziellen Analysen fortzuschreiten. - a) Biologie. Leben wird definiert als »die beständige Anpassung innerer an äußere Beziehungen« Die Biologie untersucht demnach die Wechselwirkungen zwischen Individuum und Außenwelt, vom ersten, äußerst unbeständigen und homogenen Protoplasma an bis zur Entstehung des Bewußtseins. Darwins Prinzip der natürlichen Auslese erkennt Spencer im vollsten Maße an, wenngleich er es nicht für ausreichend hält; die Vererbung erworbener Eigenschaften hat er noch in seinen letzten Jahren gegen Weismann (S. 398) verteidigt. - b) Psychologie. Die »objektive« Psychologie betrachtet - im Unterschiede von der auf die innere Beobachtung gegründeten »subjektiven« - die Erscheinungen des an sich nicht weiter erklärbaren Bewußtseins ebenfalls als Anpassungen des Inneren an das Äußere. Das Wesen der geistigen Substanz bleibt dem Psychologen ebenso unbegreiflich, wie das der materiellen dem Chemiker. Er hat nur die letzten Elemente zu erforschen, auf deren Kombinationen und Umformungen durch fortschreitende Konzentration, Differenzierung und Bestimmtheit das seelische Leben sich aufbaut, um so eine Entwicklungsgeschichte des Bewußtseins (Instinkt, Gedächtnis, Vernunft, Gefühl, Wille) zu geben. - c) Soziologie. Die. Ausdehnung auf die geschichtliche Entwicklung der menschlichen Gesellschaft geben die vier Bände der Soziologie, die uns von dem Leben des primitiven Wilden bis zu dem des modernen Kulturmenschen begleiten. Auch die sozialen Organisationen sind, wie Spencer unter fortwährenden Hinweisen auf biologische Analogien ausführt, organisch geworden, nicht künstlich hervorgebracht. Aller Fortschritt rührt von der beständig besseren Anpassung der Menschen an ihre natürliche und soziale Umgebung her. Der ursprüngliche Gesellschaftstypus ist der kriegerische oder, allgemeiner gefaßt, das zwangsweise Zusammenwirken, gegen den der industrielle Typus oder das freiwillige Zusammenwirken sich nur langsam und unter häufigen Rückschlägen emporzukämpfen vermag. Spencer ist extremer Individualist, er lehnt z.B. alle öffentlichen Wohlfahrtseinrichtungen ab. Die Tendenzen der Gegenwart treiben jedoch, wie er fürchtet, einem Staate zu, in dem »kein Mensch tun kann, was ihm beliebt, sondern jeder tun muß, was ihm geheißen wird« Er hält den Sozialismus für unvermeidlich, aber für »das größte Unglück, das die Welt je erlebt hat«, und glaubt, dass er »in einem Militärdespotismus der schärfsten Form enden wird« - d) Ethik. Auf die Möglichkeit eines dritten, über den beiden genannten stehenden Typus weist Spencers Ethik hin. In diesem dritten, vollkommensten Typus, der für uns Jetztlebende freilich nur ein fernes Ideal ist, wird die Entwicklung eines jeden Individuums nur durch das gleich große Recht anderer auf ihre Entwicklung beschränkt sein (ähnlich Kants rechts- und geschichtsphilosophischem Prinzip). Das Entwicklungsprinzip verbindet auch in der Ethik die reine oder intuitive und die empirische Betrachtung. Gut ist = Entwicklung fördernd, schlecht = Entwicklung hemmend. Das letztbewegende ethische Motiv erblickt Spencer zwar mit der utilitarischen Schule in den Lust- und Unlustgefühlen, aber er hält doch eine bestimmte Art derselben für notwendig Glück befördernd, eine andere für notwendig Unglück erzeugend.

Eine wahrhaft staunenerregende Fülle von Stoff hat Spencer in den elf stattlichen Bänden seiner Synthetischen Philosophie niedergelegt, und bewundernswert ist die Weise, wie er diesen massenhaften Stoff lichtvoll zusammengefaßt hat, wenn auch, wie er selbst gesteht, »aus dem komplizierten und verworrenen Tatsachenmaterial nur die umfassenderen Wahrheiten mit einiger Deutlichkeit herauszuschälen sind« Freilich: so fruchtbar die Anwendung des Entwicklungsgedankens auf die ganze Summe nicht bloß der Natur -, sondern auch der geistigen, geschichtlichen und sozialen Erscheinungen sich erweist, so bleibt doch die genetische Betrachtung der Dinge immer nur eine, wenn auch noch so wichtige, unter den wissenschaftlichen Betrachtungsweisen oder Methoden und bedarf anderer, vor allem der erkenntnistheoretischen, zu ihrer Ergänzung bezw. Beschränkung; das aber fehlt bei unserem Philosophen.

4. Einfluß Spencers. Nachdem Spencer lange Jahre unter der Teilnahmlosigkeit des philosophischen Publikums zu leiden gehabt hatte, fanden seine Lehren in den drei letzten Jahrzehnten seines Lebens eine immer wachsende Verbreitung: allerdings wesentlich nur in den Ländern englischer Zunge. Zuerst brach ihm in Nordamerika sein Verehrer Youmans Bahn, das Mutterland folgte; heute wird er auch im fernsten Osten, in Australien sowie auf den Universitäten Japans eifrig studiert. Auch auf das philosophische Denken der Skandinavier, Russen und romanischen Völker ist er nicht ohne Einfluß gewesen, während man sich in Deutschland erst Ende der 80er Jahre stärker mit ihm zu beschäftigen begann.

5. Sonstiger Evolutionismus. Auch abgesehen von Spencer, zählt der Evolutionismus in seinen verschiedenen Formen in England und Nordamerika zahlreiche Anhänger: meist Naturforscher, die ihn in der Regel mit dem erkenntnistheoretischen Agnostizismus verbanden, wie der schon § 67 genannte Huxley und der auf deutschen Universitäten gebildete John Tyndall (1820-93), während Romanes (1848-94) damit eine pantheistische Weltanschauung vereinte.

Daneben hat neuerdings der Einfluß der deutschen idealistischen Philosophie (Neuhegelianismus, Neukantianismus, vgl. § 73) wieder zugenommen. - Der französische Evolutionismus von Durand (1826-1900), Fouillée (1838 bis 1912) und Guyau (1854-88) verbindet sich mit einer eigenartigen, idealistischen Metaphysik (vgl. Ueberweg IV, § 65). Guyau speziell erinnert mit seiner Betonung der Lebensinstinktes und der Freude an Wagnis und Kampf, als bestimmender Triebfedern unserer besten Handlungen, vielfach an Nietzsche, der Guyaus Esquisse d'une morale sans obligation ni sanction ein »schwermütig-herzhaftes« Buch nannte. Daneben hat er die »Irreligion der Zukunft«, die ästhetischen Probleme der Gegenwart, die Kunst als soziologische Erscheinung, die Fragen der Erziehung und Vererbung und die gegenwärtige englische Ethik behandelt. Eine deutsche Übersetzung dieser Werke hat E. Bergmann unter dem Titel J. M. Guyaus Philosophische Werke (6 Bde., Lpz. 1912-14) herausgegeben.

Die eigenartige Anwendung des Entwicklungsgedankens auf die Gesellschaftswissenschaft durch Karl Marx und Fr. Engels werden wir später (§ 74) besonders behandeln.

 

Literatur: Eine gute Einführung gibt O. Gaupp, Herbert Spencer, 1897, 3. Aufl. 1906 (Klass. d. Philos. V); eine kürzere K. Schwarze (Teubner A. N. u. G.) 1909. Über Spencers Soziologie vgl. Tönnies in Philos. Monatsh. XXV u. XXVIII und K. Vorländer, Zeitschr. f. Philos., 108. Bd. (1896). Eine Übersicht über die sehr ausgebreitete Spencerliteratur s. bei Ueberweg IV, § 73.


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