1. Frankreich
1. Auch in Frankreich gab es, abgesehen von der katholischen Neuscholastik, die sich auch hier seit der päpstlichen Enzyklika von 1889 aufs neue regte und nicht weniger als drei Zeitschriften besaß, bis vor kurzem nur wenige spiritualistische Philosophen von Bedeutung mehr; zumal seitdem Cousins Anhänger P. Janet (1823 bis 1899), der an Schelling erinnernde F. Ravaisson (1813 bis 1900), der protestantische Ch. Secrétan (in Lausanne, 1815 bis 1895) und E. Vacherot (1809 bis 1897) gestorben waren. Die zahlreichen Schüler Cousins sind meist Historiker der Philosophie geworden. Diejenigen, die heute noch eine Metaphysik aufrecht erhalten, waren, wie in Deutschland, bis vor kurzem mehr oder weniger durch den Kritizismus beeinflußt (s. § 73, 4). Dagegen gewann neuerdings der romantische Idealismus von Bergson auch außerhalb Frankreichs besonders zahlreiche Anhänger. Henri Bergson (geb. 1860, von Boutroux ausgegangen) vertritt eine über das naturwissenschaftliche Denken grundsätzlich hinausstrebende Metaphysik, die neben das kausal bestimmte Ich der Erscheinung das nur durch die unmittelbare ›Intuition‹ zu erfassende »wahre« Ich des Erlebnisses setzt. Vgl. seine ins Deutsche übersetzten Schriften Zeit und Freiheit (1888, deutsch Jena 1911), Materie und Gedächtnis (mit Einführung von Windelband, 1908), Schöpferische Entwicklung (1914) und die kurze Einführung in die Metaphysik, nebst der Schrift von A. Steenbergen, H. Bergsons Intuitive Philosophie (ebd. 1909). W. Meckauer, Der Intuitionismus u. s. Elemente bei Bergson, Lpz. 1917. Es gibt nach Bergson zwei Methoden, einen Gegenstand zu erkennen: die analytische und die intuitive. Jene ist die Methode der Wissenschaft. Sie sucht den Gegenstand, dem sie sich gegenüberstellt, begrifflich zu erfassen; aber sie bleibt immer außerhalb des Gegenstandes und beim Relativen stehen. Anders die Methode der Metaphysik: die Intuition, durch die ich mich unmittelbar und mit einem Schlage in den Gegenstand hinein versetze und somit ein Absolutes erfasse. Mindestens eine Realität erfaßt jeder Mensch intuitiv: das eigene Ich, in dem er seine Dauer in der Zeit unmittelbar erlebt. Denn, obgleich die Zustände fortwährend wechseln, dauert dennoch die Vergangenheit in der Gegenwart fort. So führt die Intuition zu der »beweglichen Dauer« als dem wahren Wesen der Gegenstände. Im Gegensatz zur begrifflich-kausalen Zergliederung der Wissenschaft, welche die statische Beschaffenheit des räumlichen Nebeneinander untersucht, richtet sich die Intuition auf das lebendige dynamische Werden. Das Psychische hat nichts mit den Raumbegriffen des Physischen zu tun; denn die wahre, innerlich erlebte Dauer kennt weder ein Auseinander noch ein Vor und Nach. Das rein Subjektive ist unausdrückbar. Daher handeln wir auch frei, wenn wir unser ganzes Ich konzentrieren. Meistens freilich leben wir mehr für die äußere, räumliche Welt, lassen uns treiben, anstatt selbst zu treiben. Übrigens führen Wissenschaft und Bewußtsein am letzten Ende doch auf eine durchgängige ursprüngliche Kontinuität alles Seienden zurück.
Der Positivismus wurde hauptsächlich durch Taine und Ribot nach Frankreich verpflanzt. Die Verdienste von H. Taine (1828 bis 1893) liegen jedoch in erster Linie auf dem Gebiete der von ihm psychologisch vertieften Geschichtschreibung, Literaturgeschichte und Ästhetik. In philosophischer Beziehung ist er Determinist: zur Erklärung eines jeden menschlichen Werkes muß man auf das »Milieu« zurückgehen, aus dem es entstanden ist, wozu auch die Rasse und das »Moment«, d. i. die erlangte Bewegungsrichtung im Sinne der Mechanik, gehören. Der bekannte Verfasser des Leben Jesu (1863), E. Renan (1823-92), war philosophisch Eklektiker. In Verbindung mit dem Positivismus ist ferner eine eifrige Pflege der philosophischen Einzeldisziplinen, namentlich der experimentellen Psychologie und der Soziologie, eingetreten. Die wichtigsten der neueren Psychologen, neben Taine (De l'intelligence, 1870), sind der soeben erwähnte Th. Ribot (geb. 1839, am Collège de France) mit seinem bedeutenden Werk über die zeitgenössische englische Psychologie (1870), der schon S. 402 genannte A. Fouillée (sein Hauptwerk: Der Evolutionismus der Kraft-Ideen, übersetzt von R. Eisler, Leipzig 1908) und der Belgier Delbœuf (1831-96), die ihrerseits wieder eine größere Anzahl Schüler gefunden haben. Den Standpunkt der modernen Psychologie und Psychophysiologie, zu der auch der berühmte Physiologe Claude Bernard (1813-78) wichtige Beiträge geliefert hat, vertreten eine ganze Reihe psychologischer Zeitschriften, darunter L'année psychologique (seit 1895).
Von Soziologen stehen der Comteschen Schule nahe de Roberty (von Geburt Russe), de Greef (Belgier) und Lacombe, der biologischen Richtung Spencers A. Fouillée und R. Worms, der evolutionistischen Letourneau, der ökonomischen Durkheim, dem syndikalistischen Sozialismus G. Sorel u. a. Einer dualistischen, Geist und Natur auseinanderhaltenden Theorie huldigt Hauriou, einer mehr idealistischen G. Tarde (1843-1904), der den historischen »Beweger« im schöpferischen Individuum sieht und die drei Grundgesetze der Wiederholung, des Gegensatzes und der Anpassung unterscheidet (Die sozialen Gesetze, deutsch von Hammer, Leipzig 1908), während Graf Gobineau (1816 bis 1882) die ganze Weltgeschichte aus Rassemomenten ableiten wollte.
Von der neuesten Philosophie der exakten Wissenschaften (Couturat, Poincaré) ist schon oben (S. 496) die Rede gewesen. Auch der große Chemiker Berthelot (1827 bis 1907) war philosophisch interessiert (vgl. Science et philosophie 1886, 2. Aufl. 1905). Übrigens begannen, Boutroux zufolge, seit etwa 1900 Metaphysik und Spezialwissenschaften sich wieder zu nähern. In diesem Zeichen steht u. a. die auf dem Pariser Philos.-Kongreß (1900) von X. Léon gegründete Société française de philosophie.