2. Kritische Metaphysik
Mehrere dieser idealistischen Philosophen, die dem Kritizismus nahe stehen, haben wir bereits in § 73, andere unter den Lotze verwandten (§ 69) erwähnt. Hier seien noch hinzugefügt:
1. Johannes Volkelt (geb. 1848, in Leipzig), der zwar von Hegel aus- und durch Schopenhauer und Hartmann hindurchgegangen, aber auch von Hume und Kant beeinflußt worden ist, und jetzt ausdrücklich eine »kritische Metaphysik«, d.h. Vereinigung und Durchdringung des idealistisch- metaphysischen mit dem skeptisch-kritischen Geiste, als Aufgabe der Philosophie bezeichnet. Seine ästhetischen Arbeiten s. § 78. - Franz Erhardt (geboren 1864, in Rostock) führt in seiner Metaphysik (1. Band: Erkenntnistheorie, 1894) denselben Grundgedanken in anderer Weise aus.
2. Oswald Külpe (1862-1915 in Würzburg, Bonn und München), der mit einem auf experimenteller Grundlage ruhenden Grundriß der Psychologie begann, will den modernen Positivismus durch eine auf wissenschaftlichem Fundament ruhende »realistische« Metaphysik überwinden. Seine Einleitung in die Philosophie (7. Aufl. 1915), die in klarer und sachlicher Weise in die philosophischen Disziplinen und Richtungen einführt, gab allerdings nur Andeutungen davon, die auf einen dualistischen und zugleich theistischen Standpunkt schließen lassen; Wesensverschiedenheit der körperlichen und geistigen Realität, Beweis Gottes als Weltgeistes durch die Weltzweckmäßigkeit. Von einem geplanten großen Werk: Die Realisierung. Ein Beitrag zur Grundlegung der Realwissenschaften hat er nur den ersten Band (1912) vollenden können. Auch sein Schüler E. Dürr (1878-1913) hat Grundzüge einer realistischen Weltanschauung (Leipzig 1907) entworfen.
3. Friedrich Paulsen (1846-1908) bezeichnet in dem bei Teubner erschienenen Sammelwerk - Die Kultur der Gegenwart, Teil I, Abt. VI (1907) als den ihm am nächsten verwandten Standpunkt den eines objektiven Idealismus. In den Naturwissenschaften dürfe nur Erklärung physischer Vorgänge aus physischen Ursachen gelten. Dagegen weise das durch Raum, Zeit und Wechselwirkung einheitlich bestimmte System der Natur auf eine substanzhafte Einheit der Wirklichkeit (Gott-Natur oder All-Eines) hin. Und die Wissenschaft lasse Raum für den »Glauben« an das Gute und seinen notwendigen Sieg. In diesem Sinne sei aller praktische Idealismus auch religiös. Von Paulsens zahlreichen, ihres populären Charakters wegen vielgelesenen Schriften gehören hierher: System der Ethik (1889, 8. Aufl. 1906) und Einleitung in die Philosophie (1892, 30. Aufl. 1919). Nach seinem Tode sind seine Pädagogik (1. - 3. Aufl., 1911) von Kabitz, seine Gesammelten pädagogischen Abhandlungen von Ed. Spranger (1912) herausgegeben worden.
4. Wilhelm Dilthey (1833-1911) wendet sich in seiner geistreichen, aber ebenso wie seine Schleiermacher-Biographie Torso gebliebenen Einleitung in die Geisteswissenschaften (erster und einziger Band 1883) gegen die Übertragung der naturwissenschaftlichen Methoden auf die eines eigenen Fundaments bedürftigen Geisteswissenschaften, insbesondere der Geschichte. Dieses Fundament besteht vor allem in der »Selbstbesinnung«, die auf die »Totalität« und den »Strukturzusammenhang«, des Seelenlebens als Vorbedingung allgemeingültiger Wirklichkeitserkenntnis, Wertbestimmung und Zwecksetzung zurückgeht. Grundwissenschaft ist demgemäß die Psychologie. Vgl. auch Diltheys Einleitung in den Teubnerschen Sammelband Systematische Philosophie (1907) über Das Wesen der Philosophie, sowie seine ästhetische Schrift: Das Erlebnis und die Dichtung, 2. Aufl. 1907. Dilthey hat in Berlin eine große Schülerschar um sich gesammelt, aus der u.a.m. Frischeisen-Köhler (Halle, Wissen und Wirklichkeit, 1912), Misch (Marburg), Nohl (Jena) und Spranger (Leipzig) hervorgegangen sind.
5. Dem Kritizismus steht weiter nahe Rudolf Eisler (Wien), der in seiner Kritischen Einführung in die Philosophie (1905) sowie in seinen Grundlagen der Philosophie des Geisteslebens (1908) einen voluntaristischen Idealismus sowie eine Verbindung von Kritizismus und »idealistisch-aktivem« Evolutionismus (Wundt) vertritt und sich in weiteren Kreisen durch sein großes Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe (3. Aufl. 1910) und sein Philosophen- Lexikon (1912) bekannt gemacht hat. Ferner R. Reininger (Wien) mit seiner Philosophie des Erkennens (1911).
Einem an Kant, Fichte und Hegel gebildeten Idealismus huldigt ferner F. Jak. Schmidt (Berlin) in: Grundzüge der konstitutiven Erfahrungsphilosophie (1901), der in seinen Aufsätzen Zur Wiedergeburt des Idealismus (1908) gegen Psychologismus, Historismus und Positivismus zu Felde zieht.
6. Endlich seien von dem bereits S. 286 als Geistesverwandten Fichtes charakterisierten Rudolf Eucken noch folgende hierher gehörige systematische Schriften genannt: Die Einheit des Geisteslebens in Bewußtsein und Tat der Menschheit (1888), Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt (1896, 2. Aufl. 1907), Der Wahrheitsgehalt der Religion (1901, 3. Aufl. 1912), Grundlinien einer neuen Lebensanschauung (2. Aufl. 1913), Geistige Strömungen der Gegenwart (5. Aufl. 1915), Erkennen und Leben (1912). Euckens Erkenntnislehre sucht nach seinen eigenen Worten »gegenüber einer konstruierenden Spekulation einer-, gegenüber dem Voluntarismus und Pragmatismus anderseits«, eine selbständige Philosophie des Geistes zu begründen, tritt jedoch in Gegensatz zum Kantischen Kritizismus, in dessen »Dogmatisierung« er »eine Gefahr für den Fortschritt der geistigen Bewegung erblickt«.