1. Fechner


a) Leben und Schriften. Gustav Theodor Fechner, geboren 1801, einem alten Pastorengeschlecht der Niederlausitz entstammend, in Leipzig seit 1823 Dozent, seit 1833 Professor der Physik, überwand bald seine Oken-Schellingschen Jugendanschauungen. 1839/40 durch ein schweres Augenleiden zum Aufgeben seiner Professur genötigt, hielt er nunmehr freie Vorlesungen naturphilosophischen, anthropologischen und ästhetischen Inhalts, daneben seinem Hange zur Paradoxie in sarkastisch-humoristischen Schriften (z.B. einer »vergleichenden Anatomie der Engel«) als »Dr. Mises« nachgebend. Noch in seinem 86. Lebensjahre schrieb er eine psychophysische Abhandlung für eine wissenschaftliche Zeitschrift. Bald darauf starb er in Leipzig, wo er seit 70 Jahren gelebt hatte.

Von seinen Schriften gehören dem wissenschaftlich-philosophischen Gebiete an: Über die physikalische und philosophische Atomenlehre 1855 (2. Aufl. 1864), Die Elemente der Psychophysik 1860 (3. Aufl. 1907), Vorschule der Ästhetik 1876 (2. Aufl. 1897/98); dem persönlich-spekulativen, mit geistreicher Phantastik durchsetzten: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode 1836 (7. Aufl. 1911), Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen 1848 (4. Aufl. von K. Laßwitz 1908), Zendavesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits 1851 (3. Aufl. 1906), Über die Seelenfrage 1861 (2. Aufl. mit Geleitwort von Paulsen 1907), Die drei Motive des Glaubens 1863 (2. Aufl. 1910), Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht 1879 (2. Aufl. 1904).

b) Metaphysik. Auch Fechner will von der Erfahrung aus- und weder über sie hinweg-, noch hinter sie zurückgehen. Aber es gilt nach seiner Meinung, diese Erfahrung durch Verallgemeinerung, Erweiterung und Steigerung der in ihr schon enthaltenen Gesichtspunkte über das Erfahrbare hinauszuführen, um bis zum Höchsten, Letzten, Allgemeinsten, d.h. zu Gott, vorzudringen. Zwischen Gott und Welt, Unendlichem und Endlichem gibt es keinen Gegensatz; sie gehören zueinander wie Seele und Körper. Das Endliche ist Inhalt des Unendlichen, das in ihm an unzähligen Enden zu erfassen ist. Alles ist beseelt, vor allem auch die Pflanzen. Und warum sollen wir den wissenschaftlich nachgewiesenen stetigen Zusammenhang zwischen Tier- und Pflanzenorganismus nicht auch noch weiter, auf die scheinbar unbeseelte Materie, auf die Erde, auf alle Gestirne ausdehnen? Alle Seelen aber sind Teile einer höchsten, alles umfassenden Seele, des Prinzips aller Ordnung und alles kausalen Zusammenhanges im Weltall. So baut Fechner auf dem höchsten Gesetze (dem Kausalgesetze) die höchste Idee (Gottesidee) auf. In dem höheren Leben, in das unsere Seele nach dem Tode eingehen wird, stehen die Geister, nicht mehr an räumliche Schranken gebunden, in einem freieren und innigeren Verkehr. Freilich sind diese und ähnliche Sätze nur »Glaubenssätze« der »Tagesansicht«.

c) Naturphilosophie (Atomistik). Wie die letzte und höchste Wirklichkeit des Geistigen in der göttlichen Bewußtseinseinheit beschlossen ist, so liegt das letzte Element der Körperwelt im Atom. Die Naturwissenschaft kann die materiellen Vorgänge nur als Wechselwirkungen kleinster, für uns nicht weiter teilbarer Teilchen, d.h. »relativer« oder »philosophischer« Atome auffassen. Je kleiner sie gedacht werden, um so genauer die wissenschaftlichen Ergebnisse; denn sie sind ja nur angenommen, um Ausgangspunkte der Wirkungen, also Kraftzentren zu gewähren. Ausdehnung besitzen sie nicht mehr, ihre »Materie« ist nicht mehr materialistisch. Das Atom ist vielmehr nur die unterste Grenze unserer Erkenntnis, wie das universale Weltgesetz die oberste. Von der Schelling-Hegelschen Naturphilosophie, die in die Natur hinabsteige »wie der Bär in einen Bienenkorb«, wollte Fechner nichts wissen; man müsse vielmehr sorgsam, wie die Bienen, von unten auf arbeiten und sammeln. Das Wertvollste, was er selber für die Wissenschaft geleistet hat, ist die 1850 zuerst in ihm aufgetauchte

d) Psychophysik oder Lehre vom Zusammenhang zwischen Leib und Seele. Alles Geistige hat seinen Träger oder Ausdruck in etwas Körperlichem. Die materielle Welt ist die äußere (konvexe), die psychische die innere (konkave) Seite des Universums; der Unterschied liegt nur in dem Standpunkt des Beschauers. Das Gesetz der Erhaltung der Energie gilt für beide Seiten. Aber die psychische Intensität (Empfindung) wächst nicht so schnell, wie der entsprechende physische Eindruck (Reiz), sondern nur in dem Verhältnis dieses Reizzuwachses zu der schon vorher vorhandenen Reizstärke (Webersches Gesetz, nach dem Physiologen E. H. Weber, an dessen Untersuchungen Fechner, sein Schüler, anknüpfte). Maßeinheit ist dabei der eben merkliche Unterschied der Empfindung)*). So legte Fechner den ersten Grund zu einer experimentellen Psychologie, die dann von Wundt (s. § 70) und anderen weiter ausgebaut wurde.

Seine Ethik erblickt den höchsten Zweck in der größtmöglichen Summe von Glück in der Menschheit. »Eine Moralreligion muß einst kommen, welche das Wort Lust wieder zu rechten Ehren bringt. Eine solche wird die Klöster schließen, das Leben öffnen und die Kunst heiligen« - Auch in der Ästhetik ist ihm die Lust höchstes Prinzip. Sie hat von der Fülle der Einzelerlebnisse auszugehen, will eine rein psychologische Ästhetik »von unten«, keine spekulative »von oben« sein.

e) Nachwirkungen. In den letzten Jahren ist Fechner wieder mehr studiert worden, und zwar - der gegenwärtigen Zeitströmung entsprechend - vor allem gerade seine mehr spekulativen Schriften, wie deren Neuauflagen (s. oben S. 404) beweisen. Auch haben sich seit Anfang des neuen Jahrhunderts eine ganze Reihe von Aufsätzen und Dissertationen mit seiner Lehre beschäftigt. Wenn auch seine Weltanschauung als solche zu persönlich war, um unbedingte Anhänger zu gewinnen, so hat sie doch neuerdings manche stark beeinflußt; so die bekannten. Schriftsteller P. Moebius (1853-1907), W. Pastor (geb. 1867) und Bruno Wille (geb. 1860, Das lebendige All, 1905) und den holländischen Philosophen Heymans. Auch Fr. Paulsen (§ 76) bekannte sich von Fechner angeregt.

 

Literatur: Kuntze, G. Th. Fechner. Ein deutsches Gelehrtenleben. Leipzig 1892. K. Laßwitz, G. Th. Fechner. Klass. d. Philos. I. Stuttgart. 3. Aufl. 1910.

 

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*) Über die Sache vgl. namentlich F. A. Müller, Das Axiom der Psychophysik, Marburg 1882 und A. Elsas, Über die Psychophysik, Marburg 1886. Gegen-Einzelheiten sind von verschiedenen Forschern (u. a. Helmholtz, Hering) Bedenken erhoben worden.


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