4. Weitere Neukantianer. - Die Marburger Schule
1. Franz Staudinger (geb. 1849, Gymnasialprofessor a. D. in Darmstadt) ist, neben K. Vorländer (s. u.), derjenige unter den Neukantianern, der die Möglichkeit einer Vereinigung von Marxismus und Kritizismus am schärfsten zum Ausdruck bringt. Er sucht die intellektuellen, ethischen, religiösen und sozialen Fragen methodisch einheitlich, nach ihrer Funktion wie nach ihrer Entstehung, zu verbinden. Seinem methodischen Standpunkte nach steht Staudinger seiner eigenen Angabe zufolge Cohen, Natorp, Stammler und Vorländer am nächsten; doch hält er Kants Lehre, dass Raum, Zeit und Kategorien im Bewußtsein begründet seien, für eine ontologische Behauptung. Die »Einheit des Bewußtseins« ist ihm nur die methodische Form, in der Einheit der Wissenschaft zustande kommt; diese weist aber auf eine Welteinheit, die nicht als Einheit des Bewußtseins zu fassen ist. Hauptschriften außer den Noumena (oben S. 188): Das Sittengesetz, Untersuchungen über die Grundlagen der Freiheit und Sittlichkeit (Berlin 1887), Ethik und Politik (1899); Die wirtschaftlichen Grundlagen der Moral (1906). Neuerdings hat er seine sozialphilosophischen Anschauungen zusammengefaßt in Kulturgrundlagen der Politik (Jena 1914), die alles Gemeinschaftsleben auf vier sich beständig kreuzende und verflechtende Willensformen: Kampf, Beherrschung, Tausch und Gemeinschaftlichkeit, zurückführen.
Karl Vorländer (geb. 1860, Gymnnasialprofessor in Solingen, Sohn des S. 328 genannten Philosophen Franz Vorländer) hat sich hauptsächlich mit der Anwendung der kritischen Methode auf das Gebiet der praktischen Philosophie beschäftigt. Insbesondere sucht er zu zeigen, wie sehr gerade diese Methode zu einer philosophischen Vertiefung der Sozialwissenschaft geeignet und mit der entwicklungsgeschichtlichen des Marxismus vereinbar ist (Kant und Marx, Tüb. 1911). Seine Arbeiten über die Methode der Kantischen Ethik s. S. 224, seine Ausgaben Kantischer Werke und seine Kantbiographie S. 173, 177 f. Seine Untersuchungen über das Verhältnis von Schiller und Goethe zur Philosophie überhaupt, besonders der Kantischen, wurden später zusammengefaßt in dem Buche Kant-Schiller-Goethe (Leipzig 1907).
2. Den in erster Linie von H. Cohen beeinflußten Neukantianern ist ferner August Stadler (1850-1910, in Zürich) zuzuzählen, dessen zu § 33 zitierte Kantschriften über den Wert bloßer Interpretationsschriften weit hinausgehen und die Tragweite der Kantischen Methode der Erkenntniskritik für die moderne Wissenschaft nach den verschiedensten Richtungen hin in eigenen Ausführungen darlegen. Nach seinem Tode sind von J. Platter aus seinem Nachlaß seine am Züricher Polytechnikum gehaltenen Vorlesungen über Philosophische Pädagogik, Logik, Kant, Einleitung in die Psychologie und Grundbegriffe der Erkenntnis (Lpz. 1911-14) veröffentlicht worden.
Nahe stand den Neukantianern weiter Kurd Lasswitz in Gotha (1848-1910), Verfasser der Geschichte der Atomistik (Bd. I, S. 8) der in seiner Essaisammlung: Wirklichkeiten (1900, 3. Aufl. 1908) Kants kritischen Idealismus, wenngleich mit persönlicher Färbung, vertritt. Die Philosophie hat die obersten Bedingungen unseres Denkens, Wollens und Fühlens aufzusuchen, die ihnen entsprechenden Kulturgebiete der Wissenschaft, Ethik, Kunst und Religion sind zunächst reinlich zu scheiden, um sich erst später zur Einheit des Kulturbewußtseins zusammenzuschließen. Kultur ist Selbstbestimmung des Menschen durch Vernunft, Vernunft die Grundgesetzlichkeit des Bewußtseins überhaupt. Ein zweites Buch: Seelen und Ziele (1908) dehnt die Erörterung auf die Fragen nach Raum und Zeit, Beseeltheit der Natur und besonders auf biologische Probleme aus. Daneben zeigt Lasswitz sich auch von Fechner beeinflußt, mit dem er sich mehrfach beschäftigt hat (vgl. S. 403 f.).
Verwandt dem Neukantianismus dieser Richtung ist auch A. Liebert Das Problem der Geltung (1914), Wie ist kritische Philosophie überhaupt möglich ? (1919).
3. In den letzten beiden Jahrzehnten zogen H. Cohen und P. Natorp in ihrem gemeinsamen Wirkungsort Marburg einen engeren Kreis von Anhängern, die sogenannte ›Marburger Schule‹, heran, welche Zielrichtung und Methode der philosophischen Arbeit gemein hat und besonders stark den Zusammenhang der Philosophie mit der Mathematik und mathematischen Physik betont. Ihre methodische Weiterbildung Kants und ihren Charakter überhaupt schildert Natorp in seinem Hallenser Vortrag Kant und die Marburger Schule (Berlin 1912). Seit 1906 besitzt sie ein eigenes Organ in den Philosophischen Arbeiten, herausgegeben von H. Cohen und P. Natorp. Zu Cohens 70. Geburtstag (4. Juli 1912) haben 20 seiner Anhänger eine Festschrift: Philosophische Abhandlungen herausgegeben, die sich auf fast alle Gebiete der Philosophie erstreckt.
Systematisch schürfen am tiefsten: Ernst Cassirer (geb. 1874, in Berlin), dessen bedeutende Werke über das Erkenntnisproblem und den Substanz- und Funktionsbegriff wir an anderer Stelle erwähnt haben; Form und Freiheit (Berl. 1914). Ferner Albert Görland (geb. 1869, in, Hamburg) mit seinen Werken über Aristoteles (s. I, 123) und Leibniz (II, 95), und besonders seiner Ethik als Kritik der Weltgeschichte (Lpz. 1914), die, nach vorausgeschicktem Entwurf einer Logik, die Ethik zum ersten Mal aus den drei › Gemeinschaftswissenschaften‹ der Politik, Volkswissenschaft und Erziehungswissenschaft ableitet. Weiter zählen dazu N. Hartmann in Marburg, vgl. sein Plato-Werk I, 94, W. Kinkel (geb. 1871, Prof. in Gießen), Artur Buchenau, der Descartes herausgegeben, an der Leibniz-Ausgabe der Philos. Bibl. sowie der Kantausgabe Cassirers beteiligt ist und über Malebranche geschrieben hat, O. Buek (Herausgeber von Kants naturphilos. Schriften in der Philos. Bibl.). G. Falter, D. Gawronski, H. Heimsoeth, B. Kellermann, Joh. Paulsen u. a.