2. Friedrich Albert Lange


a) Leben und Schriften. Lange, 1828 zu Wald bei Solingen als Sohn des späteren Bonner Theologieprofessors J. P. Lange geboren, 1855 Privatdozent in Bonn, 1858 Gymnasiallehrer in Duisburg, schied 1862 während der preußischen Konfliktsperiode aus diesem Amte aus, wurde Handelskammersekretär und Redakteur, ging 1866 nach Winterthur in der Schweiz, wo er eine reiche pädagogische, philosophische und vor allem politische Tätigkeit (in demokratischem Sinne) entfaltete, wurde 1870 Professor in Zürich und 1872 von Kultusminister Falk als Professor der Philosophie an die Universität Marburg berufen, wo er, ein schweres körperliches Leiden mit stoischer Ruhe ertragend, am 21. November 1875 starb. Außer seinem Hauptwerk, der oben genannten Geschichte des Materialismus (in zweiter Auflage vollständig umgearbeitet und stark vermehrt, die neueren Auflagen besorgt und eingeleitet von H. Cohen, 9. Aufl. 1915, seit kurzem auch bei Reclam herausgegeben von seinem Biographen Ellissen), hat er namentlich sozialwissenschaftliche Schriften veröffentlicht: Die Arbeiterfrage in ihrer Bedeutung für Gegenwart und Zukunft, 1866 (5. Aufl. 1894, in ihrer ersten Gestalt neu herausgegeben von F. Mehring, 1910); J. St. Mills Ansichten über die soziale Frage und die angebliche Umwälzung der Sozialwissenschaft durch Carey 1866; vgl. H. Braun, F. A. Lange als Sozialökonom, Diss. Halle 1881. Aus seinem Nachlaß wurde von H. Cohen 1877: Logische Studien, ein Beitrag nur Neubegründung der formalen Logik und der Erkenntnistheorie herausgegeben.

b) Theoretische Grundrichtung. Es war ganz im Sinne des Kantischen Kritizismus, wenn Lange sich einerseits scharf gegen einen spekulativen Dogmatismus wandte, der den schönen Titel des »Idealismus« für sich allein in Anspruch nehmen möchte, während er im Grunde unwissenschaftlicher Spiritualismus ist: und wenn er anderseits den Materialismus insoweit bekämpfte, als dieser sich als allein berechtigtes Prinzip einer systematischen Weltanschauung hinstellt und die letzten Rätsel des Seins zu lösen verspricht, während ihm sein volles Recht als Maxime der naturwissenschaftlichen Einzelforschung nicht verkümmert werden soll. »Der Materialismus ist die erste, die niedrigste, aber auch vergleichsweise festeste Stufe der Philosophie«, weil er sich am unmittelbarsten an die Erfahrung, die »Wirklichkeit« anschließt. Er kann und muß deshalb auch der kritischen Gesamtanschauung als wertvoller Bestandteil einverleibt werden. Allein er muß sich seiner Schranken bewußt bleiben. Schon die Physiologie der Sinnesorgane zerstört den naiven Glauben, als ob die Welt schlechthin so wäre, wie wir sie sehen, hören, schmecken und riechen. Als Kants größte Tat betrachtet Lange den Kopernikus- Gedanken, dass »unsere Begriffe sich nicht nach den Gegenständen richten, sondern die Gegenstände nach unseren Begriffen« Die Grundlage der gesamten Erfahrung erblickt er mit ihm in den apriorischen Formen unserer Anschauung (Raum und Zeit) und unseres Verstandes (den Kategorien). Er zeigt, wie Materie, Atom, Kraft, Ding usw. nicht Dinge an sich, sondern nichts anderes als unserem eigenen Geiste entsprossene wissenschaftliche Hilfsbegriffe sind.

Freilich faßt er das a priori nicht streng erkenntniskritisch auf. Er findet es in letzter Linie begründet in dem »Wesen des erkennenden Subjekts«, in unserer geistig- körperlichen »Organisation«, anstatt in dem methodischen Charakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit, der in Kants »Grundsätzen«, als den Bedingungen und Grundlagen der Wissenschaft, zum Ausdruck kommt. So haftet seinen Ausführungen noch etwas von psychologischer Analyse an, die nicht im Geiste der transzendentalen Methode liegt.

c) Der Standpunkt des Ideals. Noch mehr scheint sich Lange von Kants Ethik zu entfernen, wenn er »die ganze praktische Philosophie« für den »wandelbaren und vergänglichen Teil der Kantischen Philosophie« erklärt. Die innere Verwandtschaft unseres Philosophen mit dem kritischen Idealismus zeigt sich jedoch auch hier. Allerdings verzweifelt er, im Unterschied von Kant, an der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Begründung der Ethik; er verweist sie vielmehr, zusammen mit Religion und Ästhetik, in das Gebiet der Dichtung. Aber dieser Begriff wird nicht in dem gewöhnlichen, sondern in jenem hohen und umfassenden Sinne genommen, in dem Schiller, dem Lange hier besonders nahe steht, seine philosophischen Gedichte geschrieben hat: als »eine notwendige und aus den innersten Lebenswurzeln der Gattung hervorbrechende Geburt des Geistes«, die »auf die Erzeugung der Einheit, der Harmonie, der vollkommenen Form gerichtet« ist. Es ist der »Standpunkt des Ideals« den Lange in dem erhebenden Schlußabschnitt seines Hauptwerkes verkündet, des Ideals, in dem die Welt des Seienden mit der Welt der Werte in Verbindung gebracht erscheint, des Ideals, in dessen Reich wir, die »Angst des Irdischen« von uns werfend, aus den Schranken der Zeitlichkeit und der Bedürftigkeit uns zu erheben vermögen, während hinter uns »des Erdenlebens schweres Traumbild sinkt - und sinkt - und sinkt«. Die Ethik verschmilzt auf dieser Höhe des Gedankens mit der Religion und der Ästhetik. Denn der Kern der Religion liegt nicht in gewissen Lehren, sondern in der Erhebung des Gemüts über das Wirkliche, in der Erschaffung einer Heimat der Geister, also eigentlich, wie Lange selbst sagt, in einer - »ästhetischen Erlösung« Die Form des geistigen Lebens ist es, die über das innerste Wesen des Menschen entscheidet. Und in gewissem Sinne sind auch die religiösen Ideen unvergänglich. Denn »wer will eine Messe von Palestrina widerlegen oder die Madonna Rafaels des Irrtums zeihen?«

Langes ethischer Standpunkt hat ihn endlich auch zu seiner sozialen Stellungnahme geführt. Er stellte sich ungescheut unter das »Banner der großen Idee, die den Egoismus hinwegfegt und menschliche Vollkommenheit in menschlicher Genossenschaft als neues Ziel an die Stelle der rastlosen Arbeit setzt, die allein den persönlichen Vorteil ins Auge faßt« Wie er sich die nächsten Schritte auf dem Wege zu diesem fernen Ziele dachte, hat er in seiner auch heute noch beherzigenswerten Schrift über die Arbeiterfrage ausgeführt. Seine Grundanschauung ist auch hier eine ethische. Die soziale Frage ist ihm »im wesentlichen eine Frage der geistigen Beschaffenheit der Generation und einer Reform aller Anschauungen und Grundsätze«, ihr Ziel daher die »Besiegung einer falschen Willensrichtung« durch einen Kampf, der »zugleich in dem Gemüt jedes einzelnen auszufechten ist« Für die historische Beleuchtung der sozialen Bewegung treten darwinistische Gesichtspunkte (»der Kampf ums Dasein«, »der Kampf um die bevorzugte Stellung«) stark in den Vordergrund.

 

Literatur: O. A. Ellissen, F. A. Lange, Eine Lebensbeschreibung. 1891.


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