5. Eugen Dühring
Eine Stellung für sich nimmt auch Eugen Dühring ein. Dühring (geb. 1833) mußte wegen Erblindung aus dem Justizdienst scheiden, verlor 1877 auch seine Stellung als Privatdozent in Berlin wegen heftiger persönlicher Ausfälle gegen Helmholtz und andere Berliner Professoren und lebt jetzt in der Nähe von Potsdam. Er ist ein reichbegabter und scharfsinniger, freilich auch äußerst einseitiger und selbstgefälliger Denker, der die verschiedensten Gebiete (Nationalökonomie, Mechanik, Logik, Ethik, Literatur, Judenfrage u. a.) historisch wie systematisch bearbeitet hat. In seinem Kursus der Philosophie (1875, auch in der Philos. Bibl., 4. Aufl. in neuer Gestalt als Wirklichkeitsphilosophie, 1895) will er eine »streng wissenschaftliche Weltanschauung und Lebensgestaltung« oder, wie es 1895 heißt, eine »phantasmenfreie Naturergründung und gerecht freiheitliche Lebensgestaltung« liefern.*) Er definiert die Philosophie als die Entwicklung der höchsten Form des Bewußtseins von Welt und Leben; unser Verstand ist fähig, die ganze Wirklichkeit zu begreifen, seine Gesetze und die der »Wirklichkeit« sind identisch. Aber diese Sätze erfahren, namentlich in seinen späteren Schriften, eine ganz dogmatisch-naturalistische Auslegung. An die Stelle der bisherigen, mystischen Metaphysik will Dühring eine Weltschematik, d.h. ein »natürliches« System setzen, das die allgemeinen Züge des »wirklichen« Daseins in sich abbildet. [Gerade die »Wirklichkeit« enthält, was Dühring nicht sieht, erst das Problem.] Die »Materialität« ist der wahre, Leitfaden auch für das Geistige. Ein Hauptzug der Weltschematik ist der Antagonismus der Kräfte; alle Kraftäußerung und Entwicklung, im Körperlichen wie im Bewußtsein, Gefühl und Handeln, ist durch das »Gesetz der Differenz« bedingt. Dennoch ist der regelmäßige Weg der Natur die Kombination der Kräfte. Dühring ist Optimist.
Das zeigt sich auch in seiner Ethik. Die Philosophie ist für Dühring, wie er gern betont, nicht bloße Theorie, sondern Ausdruck der persönlichen Gesinnung. Die Keime zur Moral liegen in unseren natürlichen sympathischen Instinkten. Individualismus und Sozialismus gehören notwendig zusammen: die volle Entwicklung des einzelnen ist nicht in dem bisherigen Gewalt- und Unterdrückungsstaat, sondern erst in der »freien Gesellschaft« der Zukunft möglich, die das Lohnsystem beseitigen, alle menschlichen Verhältnisse sozialisieren, allen Menschen Gleichberechtigung verleihen wird. Die Einzelheiten seines »sozietären Systems« entwickelt sein Kursus der National- und Sozialökonomie (1873, 3. Aufl. 1902).
Der scharfen, aber zum Teil durch Dührings maßlose Selbstüberhebung herausgeforderten Kritik, die F. Engels »Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft« widmete, ist bereits in § 74 gedacht worden.
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*) Von weiteren philosophischen Werken Dührings seien genannt: Natürliche Dialektik 1866, Der Wert des Lebens 1865, 7. Aufl. 1906, Kritische Geschichte der allgemeinen Prinzipien der Mechanik 1873, 3. Aufl. 1887, Logik und Wissenschaftstheorie 1878, 2. Aufl. 1905, Der Ersatz der Religion durch Vollkommneres 1883, 3. Aufl. 1906. Seine Kritische Geschichte der Philosophie (4. Aufl. 1894) ist scharfsinnig, aber auch maßlos einseitig.