1. Zurück auf Kant
Der Materialismus der 50er Jahre, der als begreifliche Reaktionserscheinung auf den spekulativen Rausch der romantischen Philosophie gefolgt war, konnte mit den Waffen des theologisierenden »Idealismus«, richtiger Spiritualismus (§ 66), welcher der materialistischen Behauptung einfach die spiritualistische Gegenbehauptung entgegensetzte, nicht überwunden werden. Aber auch die metaphysischen Systembildungen auf naturwissenschaftlicher Grundlage, von denen übrigens zunächst bloß die beiden älteren (Fechner und Lotze) in Betracht kamen, krankten an verschiedenen Schwächen, Und die Entwicklungsphilosophie führte doch nur einen, wenn auch noch so wichtigen, philosophischen Gedanken aus. Allen diesen Richtungen aber mangelte - wenn auch in verschieden starkem Maße - die notwendigste methodische Voraussetzung fruchtbaren Philosophierens: die erkenntnistheoretische Besinnung. Der offensichtliche Zusammenbruch der spekulativen Systeme eines Fichte, Schelling, Hegel bewies, dass es an der Zeit war, auf die schlichten Grundsätze ernster Wissenschaft zurückzugehen, die achtzig Jahre zuvor von Immanuel Kant verkündet und zu ihrem eigenen Schaden von der nachfolgenden philosophischen Entwicklung vernachlässigt worden waren. Von den verschiedensten Seiten erhob sich daher Ende der 50er und anfangs der 60er Jahre der Ruf: Zurück auf Kant! Frühere Anhänger Hegels wie Eduard Zeller, Herbartianer wie Drobisch, der scharfe Kritiker Hegels Rudolf Haym (in Halle, 1821 bis 1901), und der Fries nahe stehende Jürgen Bona Meyer (in Bonn, 1829-1897) waren einig in dieser Losung.
Naturforscher wie Helmholtz und Zöllner fingen an, sich auf Kant zu berufen. Schopenhauer, der gerade jetzt berühmt zu werden begann, wies auf ihn als den einzig wahren unter den - vorschopenhauerschen Philosophen und auf die Kritik der reinen Vernunft als das Werk hin, das man erst gelesen haben müsse, ehe man ihn (Schopenhauer) verstehen könne. Auch die ausführliche Darstellung der Kantischen Lehre in Kuno Fischers Geschichte der neueren Philosophie (1860ff.) mag manchen Leser zu erneutem Kantstudium veranlaßt haben. Otto Liebmann gab dieser philosophischen Tendenz der Zeit besonders energischen Ausdruck, indem er in seinem Buche Kant und die Epigonen (1865, im Auftrage der Kantgesellschaft neu herausg. von Br. Bauch 1912) jedes Kapitel mit dem Refrain schloß: Also muß auf Kant zurückgegangen werden! Dasjenige Buch jedoch, das den Sieg der neukantischen Bewegung am durchschlagendsten bezeichnet und zugleich den naturwissenschaftlichen Materialismus am erfolgreichsten überwunden hat, war die Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart von F. A. Lange (1866, 2. Aufl. 1873/75).