6. Die übrigen europäischen Länder
Die wichtigsten Philosophen der skandinavischen Länder sind bereits an anderer Stelle (bes. S. 449) genannt worden. Das Charakteristische der Gegenwart zeigt sich auch hier in dem eifrigen Betrieb der philosophischen Einzelwissenschaften, während überragende Persönlichkeiten fast ganz fehlen. H. Höffding (geb. 1843, in Kopenhagen) ist durch seine verdienstlichen Lehrbücher der Psychologie (fünfte deutsche Auflage Leipzig 1914), Ethik (2. Aufl. 1901), Religionsphilosophie (1901) und Geschichte der neueren Philosophie (1895 f.) auch bei uns seit lange bekannt. Vgl. die ausführlichen Berichte bei Ueberweg IV § 94-96.
In Spanien stehen der vorherrschenden kirchlichen Scholastik besonders die »Krausistas« (vgl. S. 304), daneben vereinzelte Positivisten, und, wie in Portugal (S. 450), auch Neukantianer der ›Marburger Schule‹, z.B. Ortega, gegenüber. In Serbien huldigt der Belgrader Professor Petroniewicz einer ausgesprochenen Metaphysik (Prinzipien der Metaphysik, 2 Bde., Heidelberg 1904-11), die Leibniz und Spinoza zu einem »Monopluralismus« vereinigen will und sich in starken Jenseits-Phantasien ergeht. - Dem gegenüber zeigte sich in Rumänien Conta (1846-1882) im wesentlichen als Materialist, während er die Metaphysik - ähnlich F. A. Lange - als eine Art wissenschaftlicher Dichtung ansah. Seine Schriften wurden ins Französische übersetzt. Xenopol (in Jassy, geb. 1847) ist wesentlich Geschichtsphilosoph (La Théorie de l'Histoire, Paris 1908).
In Griechenland sind nur unbedeutende Anfänge selbständiger philosophischer Forschung vorhanden.
Weit reger war dagegen der philosophische Betrieb in Rußland. Die philosophische Entwicklung Osteuropas bietet ein echtes Spiegelbild der westeuropäischen dar.*) Der Wolfianismus bewahrte seine Herrschaft auf den geistlichen Akademien noch bis ins 19. Jahrhundert hinein. Die weltliche Bildung wandte sich um so begeisterter den neuen Lehren Schellings und Hegels zu, von welchem letzteren die Slawophilen einer-, die Radikalen wie Bakunin (S. 468) und Alexander Herzen andererseits ihren Ausgang nahmen. Dazu trat um die Mitte des Jahrhunderts der Einfluß des deutschen Materialismus (Tschernyschewski), der jedoch bald von dem des Comteschen Positivismus abgelöst wurde. In den 70er Jahren kam dann der Evolutionismus Spencers u. a., endlich eine dem Neukantianismus verwandte Richtung (vgl. u. a. Lawrow, Historische Briefe, 1870, 2. Aufl. 1891, deutsch, Berlin 1901) hinzu. Daneben fehlte es nicht an einzelnen selbständigen systematischen Versuchen, an Vertretern des strengen Theismus an den geistlichen Lehranstalten und an regem Betrieb der Psychologie, namentlich aber der Soziologie, zum großen Teil im marxistischen Sinne. Auch der neuromantische Zug des Westens machte sich neuerdings unter der allen Einflüssen der »westlichen« Kultur so zugänglichen »Intellektuellen« unseres östlichen Nachbarlandes stark bemerkbar.
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Die Philosophie des ganzen Erdenrunds hat durch den unglückseligen, mehr als vierjährigen Weltkrieg und seine Begleiterscheinungen einen nicht bloß quantitativ, sondern auch qualitativ höchst bedauerlichen Rückgang erfahren. Indem sie gegenüber den ungeheuren wirtschaftlich-politischen Machtkämpfen als nahezu ohnmächtig sich erwies, hat sie ihres Anspruchs auf eine führende Stellung in geistigen Dingen vorerst sich begeben. Und auch bei und nach dem Abschluß des blutigen Völkerringens ist ihr Einfluß, trotz alles Aufwandes schöner Worte, bisher kaum zu spüren gewesen. Ob dies in naher oder fernerer Zukunft anders werden, ob die wirtschaftliche Hebung und Befreiung der Massen auch auf dem geistigen Gebiete wohltätige Folgen zeitigen, und in welcher Richtung dann die philosophische Entwickelung gehen wird: alles das steht noch dahin. Des Philosophen Sache ist es nicht, zu prophezeien oder sich in frommen Wünschen zu ergehen. Genug, wenn er seine Aufgabe klar erkannt hat.
Die Aufgabe der Philosophie aber veraltet nie, und so darf ich hier in dieser Hinsicht den nämlichen Gedanken Ausdruck geben, die ich schon vor siebzehn Jahren an dieser Stelle entwickelte. Gegenüber den beiden sie bedrohenden Gefahren einer metaphysischen Spekulation einer-, des Auflösens in eine Reihe empirischer Spezialfächer (wie Psychologie, Logik, Sozialphilosophie, Ästhetik usw.) anderseits, erinnere sich die Philosophie des ihr zukommenden Berufs, Prinzipienlehre der Wissenschaften (I, S. 4) zu sein. Die Marksteine des geistigen Fortschritts der Menschheit haben von jeher - das ist hoffentlich auch aus unserem Buche klar geworden - große, grundlegende Theorien gebildet, um die sich die Tatsachen gruppieren konnten. Das Schöpferische an den Ideen eines Demokrit, Plato und Aristoteles, eines Descartes, Galilei und Newton, eines Leibniz, Kant und Schleiermacher, eines Hegel, Marx und Spencer bleibt unvergänglich. Zwei Gedanken insbesondere sind in der modernen Philosophie und Wissenschaft zu voller Entfaltung und Fruchtbarkeit gediehen: der Entwicklungsgedanke, der allmählich in fast sämtliche Wissenschaftsgebiete seinen Einzug gehalten hat, und der andere, der nicht nur die methodische Grundlage, sondern auch die notwendige Ergänzung zu ihm bildet: die Erkenntniskritik, die von der erklärenden Naturwissenschaft (im weitesten, z.B. auch die Psychologie und beschreibende Moral einschließenden Sinne) die Normdisziplinen der Logik, Ethik und Ästhetik unterscheiden lehrt. Ohne sie, in denen sich die Welten der Erkenntnis, des Sittlichen und der Kunst zu gesetzmäßigem Aufbau gestalten, bleibt die bloße Entwicklungsphilosophie ohne Sinn und Ziel.
Noch brennender aber ist heute eine andere Aufgabe der Philosophie. Wie Kant einmal sagt, der praktische Philosoph ist der »eigentliche« Philosoph. Es gilt heutzutage mehr als je, Philosophie und Leben in tieferen Einklang miteinander zu setzen. Der Philosoph hat nicht bloß die Gesetze einheitlicher Erkenntnis, sondern auch diejenigen einheitlicher Zwecksetzung zu erforschen. Ruhe und Sachlichkeit, Unparteilichkeit und Gerechtigkeit sind sicherlich unumgängliche Eigenschaften eines Philosophen. Das bedeutet aber nicht unmännliche Zurückhaltung von den Kämpfen der Zeit; im Gegenteil. Nicht die Rolle jenes lichtscheuen Tieres soll die Philosophie übernehmen, das erst in der Dämmerung seinen Flug beginnt, sondern die Fackel der Vernunft und der sittlichen Selbstbestimmung soll sie den Einzelnen wie den Völkern vorantragen.
Wirkt der Philosophie Lehrende oder Lernende in diesem Sinne, so darf er sich trösten und erheben durch den Gedanken, dass seine Sache die Sache der Menschheit ist.
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*) Vgl. die ausführliche Schilderung von Th. G. Masaryk, Zur russischen Geschichts- und Religionsphilosophie 2 Bde. Jena 1913.