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Abend mit Monsieur Albert

Dienstag, 21. Januar. Dausse morgens bei mir im Hôtel, bittet mich, den Abend mir frei zu halten. Wird mich um sieben abholen, mich bei M. Albert einführen. Wird, wie er sagt, M. Albert in dessen Etablissement aufsuchen. Décrit ça comme énormément pittoresque. Ich meinerseits benachrichtige H. Aus verschiedenen Gründen. Nicht unbegründete Befürchtung, daß mir der Abend finanziell über den Kopf wachsen könne. Um sieben kommt H. kurz vor Dausse; ich habe nichts Eiligeres zu tun als H. zu bitten, mich in meiner Strategie addition bezüglich zu unterstützen.

Nun ist dieses Etablissement Rue St. Lazare in der Tat pittoresque. (Die ernstlichen, wahren, d.i. sozial gefährdenden, Laster gebärden sich bescheiden, vermeiden, selbstverständlich, jeden Anschein von Betrieb, können dergestalt geradezu etwas Rührendes annehmen. Proust dürfte darum gewußt haben.) Jedenfalls ist es so bei M. Albert. Die Atmosphäre dieser Badeanstalt schwer darzustellen. Etwa: Wand an Wand aber im Rücken der Familie wie alle wirklichen Laster. Das Auffallendste, und zwar den ganzen Abend über: die erstaunliche franchise dieser Jungen. Die jedenfalls, die ich da sah, haben noch in der ausgefallensten preziösesten Art sich zu geben eine Naivität, eine jungenhafte Aufsässigkeit, Verspieltheit und Trotz, die mich sehr an Haubinda erinnern, mir verstohlen sehr Verflossenes vergegenwärtigen.

Also zuerst der Hof, den man zu überqueren hat: eine Landschaft aus Pflastersteinen und Frieden. Wenige Fenster, die hier hinaussehn, erleuchtet. Aber Licht hinter den Milchglasscheiben zu Alberts Büro und in einer Mansarde links, die zinnenhaft in den Himmel ragt. Präsentation. Wir sind nicht allein, wir werden selbstverständlich, verdrießlicherweise als Proustübersetzer vorgestellt. Es bestätigte sich erstaunlich, was H. mir mehrere Tage später von Dausse sagte: dies Meergotthafte mit allem sich Mischende, gegen alles Verfließende (übrigens haben das Porzellanpuppen in Figurengruppen am deutlichsten; Porzellan ist die kupplerischste Materie an Liebespaaren; Dausse stelle ich mir als einen kupplerischen Porzellanflußgott vor), demgemäß er es für nötig befunden hatte am Morgen mir zu erzählen, er stünde in diesen Kreisen im Rufe homosexuell zu sein, und sogar mich beiläufig aufzufordern, abweichende persönliche Geschmacksrichtungen nicht laut werden zu lassen. Unter den Statisten ergab sich M. Maurice Sachs als einer Hauptrolle vorbehalten. Dieser Mann trug durch seine Lebhaftigkeit und die offenbar bereits mehrfach erprobte Treffsicherheit seiner Anekdoten vor allem dazu bei, mir gewisse Episoden, gewisse Informationen im folgenden verdächtig zu machen. Und wenn er kaum mit H. und mir ins Auto verstaut etwas wie ein Verzeichnis oder einen Musterkatalog von Alberts Hauptgeschichten entwickelte, so glaubte ich mit einigem Unbehagen die Spuren einer auch hierher schon vorgeschobenen tournée des grands-ducs zu entdecken. Hinter den Milchglasscheiben der Empfangsraum, durch Stores gegen alle anstoßenden Gemächer und anstößigen Vorfälle abgedichtet. Und M. Albert hinter dem Ladentisch oder der Kasse, kurz, ein arrangement aus Seiflappen, Parfüms, pochettes surprise, Badekarten und nuttigen Puppen. Sehr höflich, sehr diskret in der Begrüßung, aber gar nicht pompier und außerdem aufs angenehmste nebenher durch Rückstände der Tagesarbeit beschäftigt. Proust hat ihn, wenn ich recht erinnere, 1912 kennen gelernt. Damals wird er nicht älter als 20 Jahre gewesen sein. Und wie er heute aussieht, davon gibt es einen Begriff, wenn man sagt, man sieht es ihm an, daß er damals, als er Leibdiener beim Fürsten von Radziwill wie früher bei dem Prinzen Orloff gewesen ist, unglaublich schön gewesen sein muß. Die vollständige Durchdringung von höchster Unterwürfigkeit und äußerster Dezision, die den Lakaien auszeichnet (als mache es der Herrenkaste keinen Spaß, Wesen zu befehligen, die nicht wie Befehlshaber aussehn) – eine Durchdringung, die Proust wird zu denken gegeben haben –, ist in seinen Zügen gewissermaßen in Gärung übergegangen, so daß etwas Durchgedrücktes, ein leerer Energieüberschuß ihn auf Augenblicke einem Turnlehrer ähnlich macht.

Das Programm des Abends war groß geplant. Jedenfalls gedachte man nach dem Dîner die neue Freundschaft in M. Alberts zweitem Etablissement, dem Bai des Trois Colonnes, zu bekräftigen. Über den Ort des Dîners schien man sich vielleicht nur anstandshalber kurze Zeit im unklaren zu befinden. Dann war man sich schnell über dies Lokal »Oustiti« einig, an dem, wenn ich nicht irre, H. und ich einmal vor drei Jahren vorüber gegangen waren, ohne einen Blick hinein zu riskieren. Heute, nach etwas besserer Kenntnis, zumal des Patrons, kann ich sagen, daß es alle Chancen hat, in denkbar engster Beziehung zur brigade mondaine der Surété Générale zu stehen. Wäre das nicht der Fall, so dürfte man sagen, daß der Patron polizeiwidrig aussieht. In diesem Lokal gab es einige erstaunlich schöne Jungen. Darunter ein höchstwahrscheinlich echter indischer Prinz, der Maurice Sachs so lebhaft interessierte, daß er seinen Vorsatz M. Albert zu besonders weitgehenden Confidencen zu bewegen, nicht ausführen konnte. Ich glaube auch nicht, daß diese Confidencen jemals die Schranken überschritten hätten, die M. Alberts Versicherung seine Beziehungen zu Proust seien keine körperlichen gewesen, errichtet. Ich weiß auch nicht, ob sie jenseits dieser Grenze ein größeres Interesse angenommen hätten, als einige sehr nebensächliche beinah unwillkürliche Bemerkungen für mich besaßen, die er machte.

Proust hat bekanntlich M. Albert eine Weile nachdem sie sich kennengelernt hatten, ein Maison de Rendezvous eingerichtet. Diese Gründung war für ihn Pied-à-terre und Laboratorium zugleich. Hier unterrichtete er sich, häufig wahrscheinlich durch Augenschein, über alle Spezialitäten der Homosexualität, hier wurden die Beobachtungen gemacht, die er später in der Schilderung des gefesselten Charlus verwertete, hierhin stiftete Proust die Möbel einer verstorbenen Tante, deren unziemliches Ende als Ameublement eines Bordells er in »A l'ombre des jeunes filles en fleurs« beklagt. Hier, wo seine bürgerliche Person selbstverständlich unbekannt blieb, hat man ihm den Beinamen l'homme aux rats gegeben. Nämlich: Proust hielt die jungen Leute, deren Bekanntschaft er bei M. Albert machte, dazu an, Ratten, die ihm in einem Käfig präsentiert wurden, mit langen Nadeln auf verschiedene überaus scheußliche Art zu quälen. Neben diese unerzogensten Betätigungen seines Sadismus stellte M. Albert, ohne auf diesen sonderbaren Kontrast abzuzielen, diese rührende: Wie Proust eines Vormittags in seiner geschlossenen Kutsche an einer Schlächterei vorbeikommt, einem Metzgerjungen, der ihm gefiel, beim Zerhauen des Fleisches zusah und darüber stundenlang seinen Wagen am Fleck halten ließ.

Ich habe nicht viel Interesse an der Frage, was dabei herauskäme, wenn man diese Passion Prousts (und andre, die gewissen Szenen mit Mademoiselle Vinteuil atemraubend nahkommen) einer Interpretation seines Werks dienstbar machte. Umgekehrt aber scheint mir das Werk eines Proust ein Hinweis auf allgemeine, wenn auch sehr verborgene Charaktere des Sadismus zu sein. Und dabei gehe ich von Prousts Unersättlichkeit in der Analyse der kleinsten Vorfälle aus. Auch von seiner Neugier, die dem sehr nahe steht. Daß die Neugier in Gestalt der wiederholten immer denselben Sachverhalt erbohrenden Frage ein furchtbares Instrument in der Hand des Sadisten werden kann (das gleiche Instrument, das Kinder unschuldig handhaben), wissen wir aus Erfahrung. Prousts Verhältnis zum Dasein hat etwas von dieser sadistischen Neugier. Es gibt Stellen, an denen er das Leben mit seinen Fragen gewissermaßen zum Äußersten bringt, andre, an denen er sich vor einem Tatbestand des Herzens aufstellt, wie ein sadistischer Lehrer vor dem eingeschüchterten Kind, um es mit: zweideutigen Gebärden, einem Ziepen und Kneifen, das zwischen Liebkosung und Quälerei liegt, zur Preisgabe eines geargwöhnten vielleicht nicht einmal wirklichen Geheimnisses zu zwingen. In diesem Einen jedenfalls koinzidieren die beiden großen Passionen des Mannes, die Neugier und der Sadismus: bei keinem Befunde sich irgend beruhigen zu können, in jedem Geheimnis eingeschachtelt ein kleineres, in ihm ein noch winzigeres usw. bis ins Unendliche zu finden, wobei mit abnehmender Größe die Bedeutung des Aufgespürten sich steigert.

Das ging mir nicht gerade während M. Albert uns unterhielt durch den Kopf, sondern später. Denn an diesem Abend hatte ich alle Mühe seine schwach artikulierende Stimme aus dem Lärm eines Grammophons herauszufiltern, das die elegische Schönheit, die, weil sie ein Loch im Hosenboden hatte, nicht tanzen konnte, und durch die erfolgreiche Rivalität des indischen Prinzen gekränkt wurde, andauernd mit neuen Platten versorgte. Die addition blieb dann selbstverständlich trotz listiger Manöver an H. und mir hängen. Wir hatten keine Lust M. Albert Gelegenheit zu einer Revanche chez lui – das heißt in den Trois Colonnes – zu geben und vielleicht auch keine unbedingte Sicherheit, es würde dort nicht eine neue Zeche zu begleichen geben. Dausse brachte uns im Auto nach Hause.