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Unterirdischer Gang in der Tiergartenstrasse

Es gibt in Berlin wieder eine schöne Ausstellung, mit anderen Worten ein paar Säle, in denen es still und friedlich ist und wo man sich tagelang aufhalten kann, ohne einer lebenden Seele zu begegnen. Gäbe es nichts in diesen Sälen als die Ruhe und den schönen Blick auf den Tiergarten, den man von Paul Graupes Fenstern aus hat – der Aufenthalt darin wäre an sich schon empfehlenswert. Nun aber kommt der Umstand hinzu, daß Rolf von Hoerschelmann und Otto A. Hirth in diesen Sälen ausgestellt haben.

Hoerschelmann zeigt Paris-Studien, Bilder aus Dalmatien, aus Franken – eine Art Reisetagebuch seines verflossenen Jahres. Die Sachen insistieren auf dem Lokal, sie haben die eigensinnige topographische Präzision, die da sagt: Hier bin ich gewesen. Es gibt diese Art, Ort und Stelle schwarz auf weiß nach Hause zu tragen. Und sie ist Hoerschelmanns; nur eben, daß diese Blätter bunt sind. Wenn sie im Aufbau an die altmeisterliche Keuschheit gemahnen, mit der im fünfzehnten Jahrhundert Landschaften manchmal eher auf- als abgezeichnet wurden, so spricht ihr Kolorit von dem Verhältnis, das Hoerschelmann, als Sammler, zu der versessenen Farbigkeit der ausgetuschten Kinderbücher hat. Der Zauber dieser Blätter ist vielleicht der: Auf ihnen finden Lokal und Phantasie sich in »freier Liebe« zusammen, ohne sich standesamtlich von der Komposition vermählen zu lassen. Und weniger als bei irgendwem ist es bei Hoerschelmann gleichgültig, was er malt. Natürlich wird kein Ort auf der Erde besser der anarchischen Konvention, die diese Blätter schuf, entgegenkommen, als Paris. Jeder der da gewesen ist, wo dieser Mann malte, ist auf seinen Blättern zu Hause. Und, um nun einen großen Namen zu nennen: wenn von Utrillos Bildern überall ein unsichtbares Schild herunterhängt: »Diese Straße ist zu vermieten«, so sind wir in den möblierten Straßen der Stadt, die hier zu sehen sind, selber der Zimmerherr.

Nebenan gibt es Otto A. Hirth, der aus dem Spielbarock herkommt. In Hoerschelmanns Sachen lebt Kinderernst; Hirth hat die Geste des barocken Menschen, der sich das Kinderantlitz als Maske vorhielt, um desto schwermütiger seine unergründlichen Spiele zu spielen. Das siebzehnte Jahrhundert hat unter seinen genialen Einfällen den gehabt, mit einem Schlage dadurch sein Gewand um die ganze Erde zu werfen, daß es die Landkarte allegorisch verwendete. Damals entstanden die cartes du tendre – die Landkarten des Liebesreiches –, die Generalstabskarten des Schlaraffenlandes, die Regiones Animae Hominum. Dergleichen finden wir bei Hirth wieder. Wie groß sein echter allegorischer Eigensinn ist, erkennt man aber erst, wenn man die Bergzüge, die Flüsse, Vesten und Flecken sich näher ansieht, wo denn »Fleiß«, »Habsucht«, »Tapferkeit« genau das gleiche Städtchen, die Berge des Stolzes nicht sehr verschieden vom Gebirge der Dummheit sind. Auf anderen Blättern verbindet sich mit der Atlantenmanie dieses merkwürdigen Mannes das Labyrinthmotiv, das wir alle aus unserer Kinderzeit kennen. Aber wie herrlich sind nicht die dürftigen Winkelzüge vom Rande unserer Rechen- und Zeichenhefte hier aufgegangen, zu Brücken- und Bogen-, Berg- und Höhlen-, Dom- und Mauer-Labyrinthen geworden. Unabsehbare Landschaften reihen sich so aneinander, sind auch bisweilen zusammensetzbar, nämlich als Tapetenmuster gedacht und erinnern dann an die Myrioramen, die man vor hundert Jahren den Kindern schenkte: Blätter mit Landschaftsstücken, die man beliebig auswechseln und zusammenfügen konnte. Einleuchtend hängen neben diesen Bogen Phantasiearchitekturen, wie Meister aus der Schule Piranesis sie für die Wiener Oper vor zweihundertfünfzig Jahren entworfen haben. Vielleicht erkennen wir sie eines Tages auf der heutigen Bühne wieder.

Gemeinsam ist den beiden Bilderreihen, die wir beschrieben haben, dies eine: es zeigen sich auf ihnen keine Menschen. Genius loci und genius saeculi haben die Erde unter sich aufgeteilt. Dies ist der unterirdische Gang, der von Hoerschelmanns Bildern zu Hirths Phantasien führt. Vergessen wir aber darüber nicht, wie bequem sich's durch eine Tür von einem dieser Säle in den andern spazieren läßt.