Bragaglia in Berlin
Vor sieben Jahren hat Bragaglia in Rom sein Teatro degli Indipendenti gegründet. Dieses Theater ist in Italien die einzige Bühne, die aus der Umstellung des europäischen Bewußtseins in den Jahren 1918 bis 1920 die Konsequenzen gezogen hat. Mit ihr hat der Futurismus auf der Bühne Fuß gefaßt. Bragaglias Studio begann mit einem kleinen Ensemble von Studenten und Professoren und ist heute die maßgebende, als solche staatlich unterstützte, Bühne Italiens. Also auch bei Bragaglia die Emanzipation des Regisseurs vom Berufsschauspieler. Und das ist nicht die einzige Position, die er mit seinen führenden deutschen und russischen Kollegen gemein hat. Da ist vor allem das gesunde Mißtrauen gegen den Dichter, besser gesagt, den Textlieferanten der bürgerlichen Bühne. »Unser Theater«, erklärt mir Bragaglia, »befindet sich in ständiger Alarmbereitschaft, um der Invasion der Stückeschreiber sich zu erwehren. Der Grund für deren Attacken liegt nicht fern. Bei uns ist die Stellung der dramatischen Autoren so stark, daß sie auch bei einem Fiasko noch ihre Geschäfte machen: mit sieben Durchfällen pro Jahr können sie immer noch siebentausend Lire erzielen.« Bei dieser seiner skeptischen Einstellung zum dramatischen Dichter ist doppelt bemerkenswert, daß Bragaglia dennoch mit den Stücken, die er herausbringt, sich keinerlei Freiheiten nimmt, im Gegensatz zu jener russischen Praxis, die mehr und mehr auf die deutsche wirkt. Darum ist er doppelt auf literarisch und dramatisch wertvolle Arbeiten angewiesen. Um solche unter unserer neuesten Produktion ausfindig zu machen, ist Bragaglia hierhergekommen. Daß er sich dabei auch in den Theatern umgesehen hat, ist selbstverständlich. Beinahe ebenso selbstverständlich, daß sein Hauptinteresse von Piscator in Anspruch genommen wurde. »Eine Sackgasse, aber eine schöne«, wie er mir sagt. Bragaglias Einschränkungen beziehen sich auf Piscators politische Fundamente. »Er macht die Technik zum Mittel der Politik, während ich sie in die Dienste der Kunst stelle. Er zersetzt seine Texte durch die technischen Mittel, mit denen er sie zur Darstellung bringt, durchkreuzt sie gewissermaßen, während ich mich bemühe, den transparenten technischen Überbau über dem unverletzten Text zu errichten.« Bragaglia hat Filme gedreht, macht aber als Bühnenregisseur keinen Gebrauch vom Film. Dagegen hat er eine Anzahl höchst interessanter Neuerungen in die Bühneneinrichtung eingeführt. Abgesehen von komplizierten szenischen Dispositionen stammt von ihm der Gedanke der beweglichen Maske. Über das Gesicht des Schauspielers legt sich eine genau nach Maß verfertigte Kautschukhülle, in der das Mienenspiel sich lebendig ausprägt, der Schauspieler selbst aber von seinem empirischen Ich isoliert und in den höheren Wirkungsraum erhoben wird, den nur die Maske erschließt. Deutschland hat allen Grund, auf die Versuche dieses ernsten, fanatischen, bis ins Utopische sich selber treuen Künstlers aufmerksam zu sein. In der letzten Zeit sind Tieck, Büchner, Wedekind, Kaiser usw. über seine Bretter gegangen. Das deutsche Drama hat seit langem keinen besseren Sachwalter in Italien gehabt.