François Bernouard
Der Drucker, Verleger und Autor
Wir saßen draußen in seinem kleinen Haus in Vincennes beim Frühstück, als mir Bernouard seine Lebensgeschichte erzählte. Ich weiß noch das Zimmer – aber welches Zimmer wüßte man nicht, in dem man einmal mit ihm gesessen? Und welcher Tisch, an dem man ihm gegenübersaß, wäre nicht eine Insel im Meer des Vergessens? Ich denke nicht allein an die schönbestellten Holztische, an denen wir oft beim Père du Côté miteinander zu Abend aßen und nicht nur an die Marmortische der Deux Magots, sondern auch an den winzigen Tisch des Bureaus, an dem ich ihn zum erstenmal gesehen und auf dem ich seither so viele seiner Drucke bewundert habe. Nie in meinem Leben habe ich in einem kleineren Bureau gesessen, eine Kammer aus den Anfängen der Buchdruckerkunst, eine Inkunabel von einem Bureau, hinge nicht das Telephon an der Wand. Es kommt einem der Gedanke, der Mann dort, der das Drucken (und nicht nur drucken!) von der Pike auf erlernte, will nun, als Unternehmer, sich klein machen und allen Platz für Maschinen und Personal sparen. Seltsamer Unternehmer, der Mann, an dem keine Fiber je den verrohenden, verdummenden Einfluß des Geldes erfahren, aber dafür auch kein Zoll die Jahre des Elends und der hundertfältigen Arbeit vergessen hat. Es ist lange her, daß er eine anarchistische Zeitschrift herausgab. Wenn aber eine chemisch-reine Mischung von Geist und Lauterkeit gefährlich ist, so ist sein Gesicht es noch heute.
Der Charme, mit ihm zu reden, ist abgründig. Schmale Stege über Abgründe des Tiefsinns – so wirft er Verse, Anekdoten, Erlebnisse ins Gespräch. Keines ist unbedeutend, und keines ist allgemein. Natürlich hat er Lieblingsthemen, oft religiöse: die Juden, die Bibel. Nichts geht für den, der seine musterhafte Ausgabe der massoretischen Bibel kennt, über das Vergnügen, ihn dieses Buch als Freigeist diskutieren zu hören. So muß man den frivolen Abbés des dixhuitième gelauscht haben. Und dennoch weiß ich, daß dies große Unternehmen von mehr als 20 Bänden die praktische Vernunft seines Bibelglaubens zum Ausdruck bringt; Glaube nicht an das, was sie lehrt, aber an die ehernen Fundamente ihrer Herrschaft in Schrifttum und Sprache. Oft gibt es Debatten in größerem Kreis, die den Reiz der friedlichen Zwiegespräche noch überbieten. Dann ist es passionierend, seiner Taktik zu folgen, mitzuerleben, wie er unbeirrt durch alle Finten dem Gegner immer auf dem Leibe bleibt, nie den Partner in einer Meinung, sondern immer die Meinung in einem Partner bekämpft.
Jedes Handwerk hat einst seine eigenen professionellen Physiognomien herausgebildet. Die Kraft, die sie prägte, ist in den meisten Gewerben längst erloschen. Denkt man aber an große Drucker, selbst neuester Zeiten, einen Wiegand in München, einen Bernouard in Paris, so kommt man ganz von selber darauf, daß sie bei Typographen bisweilen jetzt noch wirkt und zum Vorschein kommt. Und Bernouard hat ja nicht als Verleger, sondern als Drucker begonnen. Es sind nun rund zwanzig Jahre seitdem vergangen. Die Buchkunst Frankreichs stand damals tief unter der deutschen, von der englischen ganz zu schweigen. In der »Préface du typographe« zur fünfzigbändigen Zola-Ausgabe hat Bernouard erzählt, wie eben die Gedanken jenes William Morris, die die Buchkunst Europas erneuert haben, ihn damals ergriffen. Freilich war es eine Einwirkung auf kurze Sicht, genug, die Verantwortung des Buchgestalters zu wecken, nicht ausreichend, ihn zu leiten. »Aber«, sagt Bernouard, »mit zwanzig Jahren denkt man mehr durch die Toten als durch sich selber.« Die Wiedererweckung des handwerklichen Setzergeistes des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts – das war Bernouards Programm, als er zu drucken begann; und in den Besitz einer Handpresse zu gelangen sein höchstes Ziel. Der Weg, den er dann später von den ersten Versuchen mit dieser Presse bis zu seinem heutigen Betrieb in Vincennes, der mit den geistvollsten, vollendetsten Setz-, Falz- und Bindemaschinen arbeitet, zurücklegte, wäre so, wie er ihn auf den genannten Seiten erzählt, gewiß ein großer epischer Stoff. Nur Zoll für Zoll hat er den Boden der Maschine überlassen, und nie ehe es ohne allen Opportunismus aus der Überzeugung geschehen konnte: so wird das Buch besser und der Arbeiter freier. Was er in dieser Vorrede erzählt und wie er es tut, ist nicht nur eine Huldigung an Zola, die dem Kern seines Werkes näherkommt als manche gelehrte Betrachtung, es ist zugleich das Bild dieses unendlich wendigen, immer der Logik der Dinge getreuen Menschen, eines polymetis – wenn das Beiwort des »nie um Rat verlegenen« Odysseus auf irgend jemand zutrifft. Aber ein polytropos auch, ein Umgetriebener, in Frankreich und in den Geistwelten. Immer doch in einer begrenzten, im Fremdesten noch ihm heimischen Zone; ich glaube nicht, daß er viel oder lange über die Grenze Frankreichs hinauskam. (Als er mir eines Tages erzählte, er sei in jedem Herbst auf einige Tage in Nizza oder Marseille, da klangen auch diese Namen in seinem Mund wie Ménilmontant oder Billancourt.) Und über seinen Editionen steht als Ursprungsmarke die Rose de France.
Diese Ausgaben stellen einen neuen Typus von Buch dar; es sind komplette, kritische, in Text und Ausstattung höchstwertige und dennoch standardisierte Gesamtausgaben moderner Autoren. Es handelt sich also bei diesen œuvres Complètes von Nerval, Mérimée, D'Aurevilly, Schwob, Renard, Zola, Bourges, Courteline um etwas, wozu es in Deutschland nichts Entsprechendes gibt. Denn alle diese Bände sind, wie gesagt, in Format und Ausstattung völlig gleich. Moderne »Klassikerausgaben« also, wenn man will, – nur daß an diesem Begriffe, wenn man alles Verstaubte, Zopfige und Langweilige abzieht, nichts übrig bleibt. Und daß das Müßige, Kleinbürgerliche und Feige, von dem dies andre nur der Ausdruck ist, hier keine Stelle hat, weil es sich in den meisten Fällen um Autoren handelt, die noch nicht frei sind. Fast immer sind also diese Sammlungen die ersten kritischen Gesamtausgaben der betreffenden Dichter.
Dieser Verleger ist Drucker, aber er ist auch Autor: Romancier und Dramatiker. Nach beiden Seiten hat er über die Vermittlerstellung seines Berufes hinaus- und in die geistige und manuelle Produktion des Buches eingegriffen. Das ist, im Querschnitt seiner Aktivität, die deutlichste Formel für das Umfassende dieses Mannes. Von den Freunden, die sich jeden Donnerstag zur Aperitifzeit um seinen Tisch zusammenfinden, wird sich schon jeder einmal im stillen über diese undurchschaubare Physiognomie seine Gedanken gemacht haben. Diesem Haar ist kein Staub der Werkstatt, diesen Augen kein Blick der Liebe, diesem Ohr kein französischer Dialekt, diesem Mund kein verzichtendes Lächeln, diesen Händen kein Griff des Mixers, diesen Füßen kein schwerer Weg fremd. So viel Wissen und so viel Kunst mußten sich zusammenfinden, um die ganze gelassene Lebenserfahrung eines Flaneurs von 1850 dem aktivsten, gewandtesten Unternehmer zugute kommen zu lassen. Und wenn wenige in dem Werk, das aus dieser Vereinigung hervorging, den erstaunlichen Menschen ahnen, so gehört auch diese Anonymität zu dessen Erscheinung. Ja, vielleicht druckt dieser Mann nur, um in einer Welt kunstreich beschworener Geister vor den Menschen sich zu verbergen.