Jahrmarkt des Essens
Epilog zur Berliner Ernährungsausstellung
Wenn die Neapolitaner Piedigrotta gefeiert haben, so zieht an einem der Tage, die dem 8. September folgen, ein Herold durch die Stadt, der in allen großen Straßen verkündet, wieviel Schweine, Kälber, Ziegen, Hühner, wieviel Eier und wieviel Tonnen Wein dies Jahr von den Bewohnern in der Festnacht bewältigt wurden. Mit Spannung wartet das Volk auf den Augenblick, wo es erfahren soll, ob es den früheren Rekord gebrochen hat oder nicht. Wie ein weit aufgerissenes Heroldsmaul, eine herrliche, unverschämte, schallende Schnauze war diese Ausstellung. Wir haben mit rätselhaftem Vergnügen erfahren, was von der Menschheit bis zur Stunde in Sachen der Fresserei ist geleistet worden. Und zwar wie jener Piedigrottaherold so hielt auch dieser Riesenmund hinter der Schallmaske Berlin sich an die Volksmassen. Es ist ihm hoch anzurechnen, daß vom ausgefallenen privaten Tafelluxus fast nirgend die Rede war und diese ganze reiche, witzige, tönende Proklamation zu Ehren der Hausmannskost aller Länder, Zeiten und Völker erging.
Popularisierung war noch vor wenigen Jahren ein bedenkliches Grenzland der Wissenschaft, ein Tätigkeitsgebiet freudloser Missionare. Seit kurzem hat sie mit Hilfe der großen Ausstellungen, das heißt aber mit Hilfe der Industrie, sich emanzipiert. In der Tat: die außerordentlichen Verbesserungen, die in die Technik der Veranschaulichung eingeführt wurden, sind nur die Kehrseite derer in der Reklame.
Ausstellungen wie diese sind die vorgeschobensten Posten auf dem Terrain der Veranschaulichungsmethoden. Und da der Golem Industrie sie erobert hat, so ist nicht zu verwundern, daß er an Ort und Stelle allerlei Unschönes zurückließ. In diesem Fall vor allem leere Malzbier-Flaschen. Er hat daraus einen fragwürdigen Riesenbaum gemacht, der im Spalier an einer Hallenwand sich hochrankt. Anderswo zeugt ein buddhistischer Reistempel, ausgeführt im besten Kolonialwarenstil, von seinem Wirken. Auch sonst stößt man ununterbrochen auf Riesenspuren; mannshohe Opferbrote auf dem Altar der Statistik oder ein ungeheurer geöffneter Schlund, angeblich Modell eines gähnenden Mundes, in Wahrheit den pantagruelischen Schaugerichten geöffnet: der »Walfischpastet mit Schuppen und Flossen« und der »Hohen Turm Dorten«, die Aschinger nach mittelalterlichen Rezepten erstehen ließ. Was diese Dinge für die Wissenschaft bedeuten, weiß ich nicht. Wohl aber, was sie den Kindern sagen. Es gibt in diesen Hallen kaum einen Stand, vor den man nicht mit ihnen hintreten könnte. Hier huldigt die Doppelmonarchie der Riesen und der Zwerge, die von dem Kind in Personalunion regiert wird, ihrem Fürsten. Neben der Riesenmitgift stehen, unzweideutiger und versöhnlich, die Spielmodelle: kleine Pasteten- und Fleischküchen, winzige Kabinette, in denen die großen Physiologen Sanctorius, Lavoisier, Liebig, Pettenkofer im Puppenstande ihres Amtes walten, transparente Nordlandsküsten mit ihren Dorschfängern und nimmermüde Arbeitspuppen, die aus den verspielten mechanischen Bergwerken in der Flasche in ein didaktisches Jenseits versetzt scheinen.
Die Masse will nicht »belehrt« werden. Sie kann Wissen nur mit dem kleinen Chock in sich aufnehmen, der das Erlebte im Innern festnagelt. Ihre Bildung ist eine Folge von Katastrophen, die sie auf Rummelplätzen und Jahrmärkten in verdunkelten Zelten ereilen, wo ihnen Anatomie in die Glieder fährt, oder in der Manege, wo mit dem ersten Löwen, den sie zu sehen bekommen, sich unauslöschlich das Bild des Dompteurs verbindet, der ihm die Faust in den Rachen steckt. Es braucht Genie, die traumatische Energie, den kleinen spezifischen Schrecken derart aus den Dingen herauszuholen. Unaufhörlich müssen unsere Ausstellungsleiter vom fahrenden Volk, dem unerreichten Meister dieser tausendfältigen Kunstgriffe, lernen.
Hier hatten sie es getan. Hier gab es ein Gemüseorakel, ein vegetarisches Delphi, dessen Hebel man nur auf einen bestimmten Monat zu stellen hatte, um in farbigen Transparenten den kommenden Küchenzettel gewahrsagt zu sehen. Hier konnte man in eine schwüle Finsternis tauchen, in die vom Weltall nichts mehr hereinschien als ein Vorgang, der »Vom Atlantischen Ozean bis zum Spickaal« führt. Daneben öffnete sich der Schlund eines Hades, dessen Lethe »Vom Urwald bis zum Kaffeetisch« als ein brauner Strom sich dahinzog. Hölzerne Landkarten sah man prangen, auf denen aufglühende und erlöschende Lämpchen die Flurbestellung im Wechsel der Jahreszeiten und den Stoffwechsel im menschlichen Körper markierten. Ihr Rot war das der Liebesthermometer, in denen Weingeistsäulen auf und nieder steigen und ihr überstürzter Takt derselbe, mit dem in Schießbuden die Jäger, Teufel, Schwiegermütter im Augenblick des tödlichen Schusses ins Leben treten.
Erscheinungen des kulinarischen Jenseits: Die Tafelfreuden der Abgeschiedenen. Ägypter, Griechen, Römer, Germanen der Frankenzeit, Italiener der Renaissance speisen in erleuchteten Nischen und nehmen wie Geister, wenn sie sich um Mitternacht zum Mahl versammeln, nichts zu sich. Oder das christliche Jenseits der Säuglingspflege: Im Vordergrunde die guten Schwestern. Sie prüfen die Wärme der Flaschen, verkosten einen Tropfen auf ihrer Hand, halten das Kind auf die rechte Art und reinigen die Flasche. Ihre ungezählten Tugenden ließen nur in einem Lehrgedicht sich beim Namen nennen. Im Hintergrunde, von schwülem Schwefelrot, sie und die armen Kinder, die sie warten, übergössen, die schlechten Pflegerinnen. Sie setzen die Flasche an den eigenen Mund, halten das trinkende Kind nach unten, schwatzen dabei mit einer anderen Verdammten und gewähren ein Bild, bei dem dem Satan das Herz im Leibe lacht.
Auf einem Sockel eine herrliche Alpenlandschaft. Die Unterschrift aber lautet: Das Verschwinden des Sommergipfels der Säuglingssterblichkeit. Ganz im Hintergrunde die steile Julihöhe der Todesfälle aus irgendeinem grauen Vorkriegsjahr. Dagegen abgesetzt, in Schichten, immer neue Gebirgsketten mit absinkenden Gipfeln, ein Höhenzug, der sich gegen die Ebene des platten Staunens verliert, die im Beschauer ihn aufnimmt. Wenn er langsam zu sich selber kommt, wundert ihn nur noch, nirgends den medizinischen Hochtouristen, die dieses Matterhorn der Statistik bezwungen haben, als kletternden Püppchen auf dem Massiv zu begegnen. Und unmittelbar daneben ein neues, gleich unerhörtes topographisches Gebilde: die Beförderurigslandschaft. Ein Milchtransport ist unterwegs vom Produzenten zum Verbraucher. In der oberen Hälfte des Schreins mit endlosen Zwischenstationen. Daher mußte die Milch für den Transport sterilisiert werden. Wertvolle Vitamine gingen verloren. Über dem reizlosen Flachland schweres Gewölk und ein Regenbogen. In der unteren Hälfte der Vitrine jedoch durchschneidet ein schnelles Auto ohne Zwischenstationen eine fruchtbare Ebene, über der ein wolkenloser Himmel sich ausspannt. Wie weit liegen die trockenen Aufrisse der älteren Statistik mit ihrer unschönen Linienwirrnis hinter uns. Die ganze Erde mit Busch und Baum und Feld und Haus und Hof und Mensch und Tier ist gerade gut genug, in den Sprachschatz dieser wundervoll neuen und unverbrauchten Zeichensprache einzugehen. Wir selber, alles was uns eignet oder freund ist, können jederzeit uns in ihr wiederfinden und von unserer verborgensten Seite, der vierten oder fünften Dimension, von der wir gar nichts wußten, zu Ehren kommen: als Maßstabwesen. So muß das Brandenburger Tor hier immer wieder in die Arena steigen, um in heroischen Konkurrenzen von Kohlköpfen, Äpfeln, Broten, Kartoffeln und anderen Konsumgütern sich schlagen zu lassen.
Dies alles ist Jahrmarkt. Daß es aber das ist, daß hier in jeder Ecke und unter tausenderlei Gestalten das Essen seine Purzelbäume schlagen und seine Kunststücke zeigen kann und daß wir uns vom Hundertsten ins Tausendste verlieren, von einem Schnullerkabinett zu den mittelalterlichen Saugflaschen und von den mittelalterlichen Saugflaschen zu den Inkunabeln der Medizin, wo sie zum ersten Male abgebildet sind, kurz daß uns jeden Augenblick so viel »dazwischen kommt« und dieser Rummelplatz mit Gratiskino, Gratisführung, Gratisausschank auf einen Vergnügungspark verzichten durfte, weil er selbst einer war, das ist doch nur die Kehrseite einer straffen und glücklichen Organisation, die überall locker lassen konnte, weil sie das Ziel fest im Auge hatte: für vernünftiges, sauberes, freudiges Essen zu werben.
Der politische Wetterwinkel der Schau: die Kammer der Kriegsernährung. Ich glaube, sie hat erschütternde, klassische Szenen des Wiedererkennens gesehen wie nur ein attisches Amphitheater. »Ach, das ist ja die wunderbare Wurst, die wir hatten.« Und: »Ich weiß noch den Abend, wie Onkel Oskar das ›Lausitzer Kindel‹ aufmacht, und wir alle ...« Oder eine andere, beim Anblick der »Fischblutwurst«: »Na, das habe ich ja nun nicht gemacht.« Aber auch sie wird den »Deutschen Reichs-Kaffee-Ersatz ›Gloria‹« ausgeschenkt oder den Gästen, die »nach dem Abendbrot« kommen durften, ein Schälchen »Kakaotee« vielleicht mit »Bomben und Granaten Rum-Ersatz«, den Kindern aber ihr Gläschen »Alkolos« und sich selbst früher oder später einen »Kriegsbitter« gegönnt haben. Und wenn der Gatte seine Kollegen beim Skat sah, konnte er ihnen getrost bei einem schäumenden Becher »Kampfperle« die Mindestforderung Deutschlands entwickeln. – Man hat diese große, unschätzbare Kollektion vom Dresdner Hygienemuseum bezogen und würdig zur Schau gestellt. Sie ist es wert, die Runde bei allen Hausfrauenvereinen Deutschlands zu machen. Es wäre eine schöne Aufgabe für das Rote Kreuz oder für die Vaterländischen Frauenvereine, diese Sammlung auf Reisen zu schicken. Nur müßte sie vervollständigt werden um all die Gutachten ärztlicher Autoritäten, mit denen diese Höllentränke und Schmutzpasteten ins Volk gebracht wurden. Im übrigen gibt die Sammlung das Wesentliche. Nicht zu vergessen die wohlerhaltenen Etiketten der Flaschen und Tüten. Da stehen sie, die sadistische Trockenmilch »Trinknur«, die Marmelade »Fruchtogen«, oder die apokalyptische Kriegstorte »Astro« – eingetragene Fabrikmarken, in welche damals die heimatlose Wahrheit als in ihr letztes sprachliches Asyl sich geflüchtet hatte. Wann wird das alles wieder aktuell werden? Und welches Geschlecht wird, wenn von unserm schon nichts mehr übrigblieb, auf die Überreste der ersten »garantiert unvergasbaren« Nährmittel stoßen?
Man kennt Riepenhausens berühmten Stich nach Hogarths Bild »Das Ende aller Dinge«. Es ist jenes bedeutende Werk, das bestimmt war, gegen den Geist der allegorischen Malerei sich zu wenden, und ihn doch nur großartig ausspricht. Auf einer Trümmerstätte von Emblemen ruht Saturn, und in der Hand hält er ein Testament, in welchem er verfügt: »Alles und jedes Atom hievon (d.h. der Welt) vermache ich dem Chaos, das ich als meinen einzigen Testamentsvollzieher ernenne. Zeugen: Klotho, Lachesis, Atropos, die drei Parzen.« Man kann sich das Ende der Welt auch weniger dramatisch, räumlicher, friedevoller und provinzieller denken. Und in solchem Sinne wäre das Ende der Ernährungsausstellung kein schlechtes Modell des Ortes, wo die Welt mit Brettern vernagelt ist. Am äußersten Rande der Schau, abseits von allen Hallen und am Ausgang eines Gartenpfades, erhebt sich ein Schuppen. Im Vordergrunde rechts eine riesige Batterie blecherner Milchkannen: 3000 Liter. Links und im Hintergrunde läßt man uns sehen, was an die Kuh verfüttert werden mußte, um so viel Milch zu erhalten. Da liegen in 12 Säcken 6½ Doppelzentner Kraftfutter, 9 Doppelzentner Stroh, 27 Doppelzentner Heu in 2 Fudern und 110 Doppelzentner Rüben in 5 schweren Fuhren. Wem wäre der Gedanke nicht tröstlich, hier, wo alles zu Ende geht, hier, wo er es am wenigsten noch erhoffte, die Lösung des Welträtsels, beiläufig, wie man einem Kinde ein Liebigbild zusteckt, mit in den Kauf zu bekommen und das in Gestalt einiger Ziffern, die geruhig über dem stillen Leben, dem Unbekannten, das zwischen Futter und Milch liegt, dem ausgesparten Geheimnis des Wiederkauens, im Winde schwanken?
Wir alle haben, als wir klein waren, im »Robinson« immer wieder auf die gefährliche Art geblättert und mit klopfendem Herzen das Angstglück gesucht, das uns beim Anblick des Bildes befiel, wo Robinson vor den Spuren der Menschenfresser zurückschrickt. Das war nicht nur eine Episode aus seinem Leben, es war die ultima Thule der Ernährung, die mit dem knochenübersäten Stückchen Strand vor uns aufstieg. Warum mußten wir sie auf dieser Schau, die auch das Fernste eingebracht hatte, vermissen? Und warum entzog sie denen, die sie in wenigen Stunden zu wahren Kunstkennern des Essens gebildet hatte, die höchste künstlerische Befriedigung: zu sehen, wie der Ring sich schließt und die geheimnisvolle Schlange des Nahrungstriebes sich in den Schwanz beißt?