James Ensor wird 70 Jahre
Von allen Malern, die heute am Leben sind, hat Ensor wahrscheinlich das auffallendste Werk. Nicht im Sinne des Kolorits – seine Farben sind oft gedämpft – sondern im Sinn des Gemalten. Jedes Kind sieht: In diesen Bildern geht etwas um. Dennoch hat selbst dies Werk nicht das Geschwätz der Snobisten entmutigt. »Durch Beurteilung und Bewunderung seiner Sujets oder seiner Gedanken tut man ihm unrecht. Und Alle, die diese unfruchtbare Diskussion fortsetzen, verlängern dies Unrecht.« Wir wollen nicht scheuen, es ihn zur Feier seines siebzigsten Geburtstags erleiden zu lassen. Heute an diesen Sujets vorüberzugehen, wäre gesuchter denn je, weil sie ganz unabhängig von Ensors Werk, geschweige denn vom Jubiläum seines Schöpfers, zur Debatte stehen. Sie teilen die Beharrlichkeit, mit der sie fortdauernd wiederkehren, mit denen, die in den Leistungen der Psychopathen, Primitiven und Kinder die Analyse herausfordern. Wer sich die Fülle seiner Fratzen und Masken, die Stereotypie seiner Kringel und Ornamente, die in Wolken- und Menschenmassen sich wiederfinden, die provozierend literarischen Unterschriften vergegenwärtigt, stößt unbedingt auf einen zwangshaften Einschlag in Ensors Schaffen. Mehr noch als seine einzelnen Bilder verlangen diese Motive gebieterisch, enträtselt zu werden; ein Verlangen, das am Ende wohl auch den Snobisten zu Ohren gekommen sein muß. Daraufhin tauchten dann die beliebten Erklärungen auf, die auf eine Unterschlagung der Rätselfrage hinauskommen. Die Masken, das seien eben die Figuren der belgischen Landsleute, die er in Brügge beim Karneval beobachtet habe, die Unheimlichkeit seiner »Schlittschuhläufer«, seiner »Schlacht der Güldensporne« sei in Wahrheit biderbe Komik, das »In Betrachtung von Chinaarbeiten versunkene Skelett« ein Vorwand, die Reflexe von Licht auf Knochen und Porzellan zu studieren. Alledem gegenüber wird immer mit Nachdruck auf die grundlegende Betrachtung verwiesen werden müssen, die Wilhelm Fraenger im Anschluß an die Radierung »Die Kathedrale« von Ensors Schaffen gegeben hat, und die mit Tschudis Analyse des Manetschen Fliederstraußes, Grimmes ikonographischer Enträtselung der Sixtinischen Madonna zu den vorbildlichen Detailstudien der neuesten Kunstwissenschaft gehört. Fraenger nimmt es da mit den Hauptmotiven des Meisters auf: mit der Masse, mit der Maske und mit dem Raum. Es gelingt ihm, Ensors Motive durch Zeugnisse Georg Heyms, Strindbergs, Kubins zu beleuchten und aus der »Kathedrale« ein verwandeltes Selbstportrait des Malers herauszulesen. Gewissermaßen das Architekturskelett eines Ensor, der sich und allem Lebenden entfremdet, in die Mitte einer von panischem Entsetzen fixierten Masse von Larven und Soldaten gebannt ist, um so als Urweltmaske unter jüngeren Masken, als gotischer Saurier mit der unabsehbaren Gipfelung des Horn-Turms, den Raum in leises Schwanken zu versetzen und seine Wesen ins Nirwana einzuwiegen. Aber vielleicht kann man den Angriff gegens l'art pour l'art noch weiter vortragen und dem Ästhetizismus der in Valeurs und Tonalitäten sich auskennt, eine fast politische Ensordeutung entgegenstellen. Da die artistische Wertung von Ensors Sachen immer vom Lichte wird ausgehen müssen, ist für einen, der sich von der Gesamterscheinung dieses Werkes Rechenschaft geben will, vielleicht die Hauptfrage, wie dieses Licht mit den Erfahrungen zusammenhängt, deren Niederschlag seine Bilder sind. Man hat darauf verwiesen, daß Ensor an der Küste in Ostende lebt, daß die atmosphärischen Nuancen der Meerluft in seinen Bildern sich spiegeln. Gewiß. Da aber Bilder doch nicht Spiegel sind, warum spiegeln sie sich in ihnen? Die Meerluft löst nicht nur das Licht in eine unendliche Tonskala auf, sie löst, oder vielmehr zersetzt auch den Stein, sie frißt und sie zehrt am Festen. Und indem wir uns das Bild so gelöster, zersetzter Blöcke vor Augen stellen, wie die, in denen die »Kathedrale« weniger ragt als rieselt, geraten wir auf eine sonderbare Seite der Zersetzung: daß sie nämlich das Massenhafte, daß sie die verborgene Unzähligkeit der Dinge hervorkehrt. Der angefressene Stein, zersetztes Fleisch zeigen die Vielheit ihres körnigen oder zelligen Aufbaus. »Masse« scheint ganz und gar nichts Rundes, Eindeutiges zu sein. Es scheint eine Dialektik der Masse und sie selber zwiefach zu geben, je nachdem, ob sie sich formiert oder ob sie entdeckt wird. Die aufgedeckte, die entdeckte Masse ist immer das Gewimmel des Schlangenknäuels, den wir mit Ekel unter einem aufgehobenen Stein entdecken. Nun ist der Friede so ein Stein gewesen, und der Krieg hat ihn gewendet und aufgehoben, daß unter ihm das scheußliche Gewimmel der Schlange »Inflation« zum Vorschein kam. Ganz wenige nur wußten schon vordem, wie es unter diesem Stein aussah, zu dem die Masse gebetet hat. Einer von diesen war Ensor. Ihm war er transparent geworden, er sah die ungezählten Windungen derer, die am Höllentor Schlange stehen. Nicht das Gesicht, das Gekröse der herrschenden Klasse.