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Ein bedeutender französischer Kritiker in Berlin

Gespräch mit Benjamin Crémieux

Wenn die École Normale Supérieure für einige Generationen französischer Literatur die Pflanzschule war, so ist seit etwa zehn Jahren der Quai d'Orsay mit seinen Dépendancen ihr Hauptquartier. Claudel, ehemaliger Botschafter in Tokio, hat jetzt die Vertretung Frankreichs in Washington; Paul Morand bereist als Diplomat den fernen Osten; Giraudoux sitzt zurzeit als Vorsitzender des französisch-türkischen Ausgleichskomitees in Paris, und in den Räumen des Pariser Außenministeriums selbst vertritt zurzeit Martin Maurice die Gilde der Romanciers, Crémieux die Avantgarde der literarischen Kritik.

Crémieux kam – und das ist besonders erfrischend – nicht als »professional« der deutsch-französischen Verständigung. Zwar liest er das Deutsche fließend, und es hat, wie er uns erzählt, nur wenig gefehlt, daß er vor Jahren der Germanistik statt der italienischen Philologie sich zugewandt hätte. Indessen ist er der ausgezeichnete Übersetzer von Pirandello, der große Kenner des italienischen Schrifttums geworden, der unter anderm zuerst von allen zusammen mit Joyce und Larbaud sich für Italo Svevo eingesetzt hat. Diesen Svevo hat man den italienischen Proust genannt. Ich weiß nicht, ob dies oder eine andere Wendung der Punkt war, an dem wir zuerst auf Proust zu sprechen kamen. Wir wissen jetzt, meint er mit deutlicher Anspielung auf die »Recherche du temps perdu«, zur Genüge, was der Mensch nicht ist. Nun wollen wir wissen, was er ist. Aber er muß konstruiert werden. Nicht im klassischen Sinn, nicht wie, wenn auch begabt, Radiguet es versuchte, sondern im Sinne neuer zyklischer, synchronistischer, filmhafter Kompositionen. Hier nennt mein Unterredner nur ungern Namen, denn es sind jüngste, wenn auch früh erprobte Talente: André Chamson, Jean Prévost, Gabriel Marcel. Ich: »Und wenn ich jetzt unversehens, summarisch mit der Frage an Sie herantrete: Wen, hinge es von Ihnen ab, würden Sie aus der Reihe der jüngeren Autoren sozusagen d'urgence (mit Extrapost) übersetzen lassen?« Diese Frage gefällt meinem Partner gar nicht. Und ich erinnere mich gerade noch rechtzeitig, vor kurzem in einer interessanten Umfrage der »Cahiers du Sud« seinen reservierten, besonnenen Gedankengängen über das Übersetzen im allgemeinen begegnet zu sein. Heute erklärt er mir: »Erstens scheint mir in jener übermäßigen Geschäftigkeit des Übersetzens etwas Krampfhaftes, Unfruchtbares zu liegen. Gerade mein Aufenthalt in Berlin hat mir Licht darüber gegeben, wieviel von unserer neuesten Dichtung im Deutschen schon vorliegt. Davon zu schweigen, daß ich viel öfter, als ich erwartet hatte, Leser fand, die auf die deutsche Übersetzung nicht zu warten brauchen. Zweitens sollten wir unbedingt in jeder Sprache eine Literatur, die durchaus für den inneren Konsum geschaffen ist, von der exportfähigen unterscheiden. Ein gutes Buch kommt, selbst in guter Übersetzung, kaum zur Geltung, wenn es in einer Serie von Übertragungen minderwertiger oder unübersetzbarer Werke erscheint. Und drittens bin ich keineswegs ein Freund der philologischen, archaischen Treue der Übersetzung.« Hier spricht Crémieux sehr hübsch von den fiançailles, der Verlobungszeit –, die jedes große Werk mit einer fremden Sprache verleben müsse, ehe es zur dauernden, endgültigen Verbindung kommt. Endlich, und um mit der drastischen Sprache berühmter, klingender Namen zu schließen, stelle ich meinen freundlichen Unterredner wie folgt: »Welches ist der französischste Autor unter den Deutschen?« »Der französischste unter den Deutschen – das muß der geistvollste, geschliffenste sein.« Da nennt er Kerr. Kerr französisch herauszugeben ist eines seiner nächsten Projekte. Am Morgen nach unserer Unterredung hat Crémieux uns, Berlin, verlassen. Er schätzt die Stadt mit freundlichem Optimismus, hängt an ihrer Zukunft und erwartet, sie wiederzusehen, wenn der blendende, steinerne Gürtel um das waldige Herz des Tiergartens seine nächste, die amerikanische Physiognomie tragen wird, die Crémieux schon mit Freuden im Werden sieht.